Was ein Austritt ändert
Die britische Regierung muss ihre Beziehungen mit der Europäischen Union nach dem Votum der Bürger für einen Austritt aus der Staatengemeinschaft neu regeln. Es folgt eine Reihe möglicher Konsequenzen:
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Recht: Grundlage der Verhandlungen ist Artikel 50 des EU-Vertrages von Lissabon, der den Austritt eines Mitgliedslandes aus der Union möglich macht. Demnach hat Großbritannien zwei Jahre Zeit, um die Bedingungen der „Scheidung“ auszuverhandeln. Der britische Premierminister David Cameron will es seinem Nachfolger überlassen, der EU diese Mitteilung zu übergeben. Sobald Artikel 50 von der britischen Regierung in Brüssel angemeldet ist, gibt es kein Zurück mehr, und die Uhr beginnt zu ticken.
Sollte nach zwei Jahren kein Abkommen stehen, sind die EU-Gesetze im Vereinigten Königreich nicht mehr gültig. Die neuen Vereinbarungen müssen nicht nur in London und Brüssel, sondern auch von der Mehrheit der übrigen 27 EU-Staaten abgesegnet werden. Experten rechnen mit extrem komplexen Gesprächen, die es zuvor noch nie gegeben hat.
Handel: Der Rest der EU liefert Waren im Wert von 100 Mrd. Euro ins Vereinigte Königreich. Zugleich exportiert Großbritannien Dienstleistungen für 20 Mrd. Euro auf den Kontinent, mehr, als von dort die britische Inseln erreichen. Ein Großteil entfällt dabei auf Finanzdienstleistungen.
Die Befürworter eines „Brexit“ haben argumentiert, dass es im Interesse der EU sei, ein Freihandelsabkommen mit Großbritannien auszuhandeln. Allerdings liegt der Fokus solcher Abkommen oft bei Waren und weniger bei Dienstleistungen. Die Schweiz etwa, deren Finanzdienstleistungen einen noch größeren Anteil an der Wirtschaftsleistung des Landes haben als die von Großbritannien, hat keinen freien Zugang zu den EU-Märkten.
Wettbewerb: Wenn britische Unternehmen EU-Firmen übernehmen wollen, brauchen sie in Zukunft die Genehmigung der Wettbewerbsbehörden ihres Landes genauso wie der EU-Kommission. Das dürfte zu höheren Kosten und Unsicherheit führen, weil jede Behörde anders entscheiden könnte. Die britische Regierung könnte zwar in Schieflage befindlichen Firmen in der Heimat stärker unter die Arme greifen, weil sie nicht mehr die EU-Regeln zur Staatsbeihilfe beachten müsste. Umgekehrt kann aus London kein Veto mehr gegen Beihilfen von EU-Staaten für ihre eigenen Unternehmen kommen.
Energie: Mit dem Verlassen der EU werden Infrastrukturprojekte im Energiesektor in Großbritannien wahrscheinlich teurer. Bereits jetzt kämpft das Land mit Schwierigkeiten bei der Stromversorgung. Die schlechteren Wettbewerbsbedingungen könnten auch Energieriesen wie BP und Shell treffen.
Klima: Großbritannien ist das Land in Europa mit dem zweitgrößten Ausstoß an Treibhausgasen. Seine Energiekonzerne gehören zu den größten Käufern von Verschmutzungszertifikaten (ETS), mit denen die EU den CO2-Ausstoß verringern will. Allerdings setzt das Königreich zugleich auf Atomkraft, die nur geringfügig CO2 ausstößt. Deshalb hat sich die Regierung in London für ambitionierte Klimaziele in der EU eingesetzt. Diese Stimme dürfte nun verloren gehen.
Staatshaushalt: Nach dem EU-Austritt müssen die Briten die EU-Haushaltsregeln nicht mehr befolgen. Das heißt, dass ihr Defizit die Marke von drei Prozent überschreiten und die Verschuldung höher als 60 Prozent gemessen an der Wirtschaftsleistung sein darf.
Luftfahrt: Mit dem britischen EU-Austritt stehen auch Luftverkehrsabkommen infrage, mit denen die britischen Anbieter unbegrenzten Zugang zum europäischen Markt erhalten haben. Auch die transatlantischen Routen in die USA muss Großbritannien neu verhandeln und könnte dabei mit weniger vorteilhaften Bedingungen abgespeist werden.
Außenpolitik: Neben Frankreich ist Großbritannien das einzige EU-Land im Besitz von Atomwaffen und mit Veto-Recht im UNO-Sicherheitsrat. Die US-Regierung hat durchblicken lassen, dass sie nach einem „Brexit“ weniger interessiert ist an den engen Beziehungen zum Königreich, weil dieses in der EU an Einfluss einbüßt. Zugleich müssten sich die Briten nicht mehr an EU-Positionen in der Außenpolitik halten, etwa in den Beziehungen zu Russland. Die NATO-Mitgliedschaft Großbritanniens ist durch einen „Brexit“ formal nicht berührt.
Justiz und Innenpolitik: Großbritannien hat bereits eine Reihe von Ausnahmen in den Bereichen Justiz- und Innenpolitik für sich beansprucht. Das Land ist vor allem kein Mitglied des pass- und kontrollfreien Schengen-Raums. Unklar ist, ob es künftig die Wiedereinführung der Visapflicht für Briten in den anderen EU-Staaten und umgekehrt geben wird.
Großbritannien beteiligt sich an der EU-Polizeibehörde Europol, erkennt derzeit den EU-Haftbefehl an und tauscht mit den EU-Partnern Daten aus. All diese Bereiche müssen neu geregelt werden. Auch die gerade ausverhandelten EU-Datenschutzabkommen, die Internetfirmen wie Facebook oder Google betreffen, wären künftig nicht mehr gültig.
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