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Unvorhersehbare Folgen in Nordirland

Nach dem „Brexit“-Referendum - Großbritannien steigt aus der EU aus - und dem angekündigten Rücktritt von Premierminister David Cameron kochen die Abspaltungstendenzen in Großbritannien wieder hoch.

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Die schottische Regierungspartei SNP trachtet nach dem „Brexit“-Referendum nach einem zweiten Volksentscheid zur Loslösung vom Königreich. „Ein zweites Unabhängigkeitsreferendum ist nun höchstwahrscheinlich“, sagte Schottlands Ministerpräsidentin und SNP-Parteichefin Nicola Sturgeon am Freitag.

Anhänger des Verbleibs Schottlands beim Vereinigten Königreich jubeln nach dem Referendum im September 2014

APA/AFP/Andy Buchanan

Die erste Abstimmung über eine Abspaltung Schottlands ging pro Großbritannien aus

Sie werde sich dafür einsetzen, Schottlands Platz in der Europäischen Union zu sichern, so Sturgeon. Die schottische Bevölkerung hatte sich mehrheitlich für den Verbleib in der EU ausgesprochen, während Großbritannien insgesamt für den Austritt votierte. Die europafreundliche SNP war 2014 mit einem ersten Versuch, die Unabhängigkeit von Großbritannien zu erreichen, knapp gescheitert. Eine Loslösung von Großbritannien soll den Wiedereintritt Schottlands in die EU ermöglichen. Die jetzige Abstimmung „macht deutlich, dass die Menschen in Schottland ihre Zukunft in der EU sehen“, sagte Sturgeon weiter.

Eine Grafik zeigt das regionale "Brexit"-Abstimmungsergebnis

Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA/Telegraph

51,9 Prozent für Austritt

Die Briten hatten am Donnerstag mit 51,9 Prozent klar für einen EU-Austritt gestimmt, wie Freitagfrüh die britischen Behörden bestätigten. Nach Auszählung aller 382 Wahlkreise gab es 17,4 Millionen Stimmen für den Austritt und 16,1 Millionen für den Verbleib in der EU.

Laut BBC votierten 62 Prozent der Wähler in Schottland und 55,8 Prozent der Stimmberechtigten in Nordirland für den Verbleib in der EU. In Wales stimmten 52,5 Prozent der Wähler für den „Brexit“, in England 53,4 Prozent. England stellt 84 Prozent der Stimmberechtigten im Vereinigten Königreich.

Warum die Schotten die EU mögen

Alle fünf Parteien im Parlament in Edinburgh hatten für den Verbleib in der EU geworben. Die Sympathie vieler Schotten für Europa hat unterschiedliche Gründe: Einerseits basiert ihre Wirtschaft auf dem Export, andererseits tendieren die Schotten ohnehin weit stärker zur Labour Party, deren Chef Jeremy Corbyn wenn auch halbherzig für den Verbleib in der EU plädierte.

Viele schätzen den Schutz, den sie dank des EU-Arbeitsrechts und anderer europäischer Regelungen genießen. „Die meisten Schotten glauben an einen starken Staat und lehnen die Privatisierungspolitik der Regierung in London ab“, sagt der Geschichtsprofessor Tom Devine von der Universität in Edinburgh.

Finanzielles als Hemmschuh

Auch die Zuwanderung, eines der Hauptargumente der „Brexit“-Befürworter, verbreitete in Schottland weit weniger Schrecken als in England: Während viele Engländer die zahlreichen Immigranten aus der EU eher als Konkurrenten um Arbeit und Belastung der Sozialsysteme betrachten, ist Schottland wegen seiner alternden Bevölkerung in ländlichen Regionen auf die Zuzügler angewiesen.

Eine Unabhängigkeit würde für Schottland allerdings auch Risiken bergen - vor allem finanziell, denn die Region ist von der Ölförderung abhängig. Dementsprechend hart trifft sie derzeit der Ölpreisverfall. „Die Schotten bremst bei ihren Bemühungen um einen Abschied von Großbritannien nur eine Sache, und das ist die finanzielle Abhängigkeit vom Haushalt in London“, sagt Joachim Fritz-Vannahme, der Direktor des Programms „Europas Zukunft“ bei der Bertelsmann-Stiftung.

#ScotLond für Verbleib in EU

Mit dem Hashtag #ScotLond wehren sich Brexit-Gegner im Netz gegen den Austritt aus der EU. Auf Twitter kursierte am Freitag eine Bildkombi, die augenscheinlich eine idyllische schottische Landschaft und die Skyline Londons zeigte - überlagert von den Sternen der europäischen Flagge. „Ich habe schnell ein neues Logo für unser neues Land gestaltet“, schrieb Nutzer Michael Shaw. Schotten und Bewohner der britischen Hauptstadt hatten mehrheitlich gegen den Austritt aus der EU gestimmt. „Nehmt uns mit!“, schrieb eine Nutzerin aus Gibraltar dazu. Das Foto wurde von vielen Nutzern kommentiert und verbreitet.

Nordirland: Sinn Fein will für Austritt werben

Auch in Nordirland beflügelt die „Brexit“-Debatte alte Abspaltungsfantasien von Großbritannien - und zugleich die Furcht vor einem Wiederaufflammen des Konflikts zwischen Katholiken und Protestanten. Die britische Regierung habe nach dem „Brexit“-Entscheid die demokratische Pflicht, ein Referendum über eine Vereinigung Nordirlands mit Irland anzusetzen, sagte der stellvertretende Erste Minister Nordirlands, Martin McGuinness, am Freitag. Die Regierung in London habe kein demokratisches Mandat mehr, Nordirland in Verhandlungen mit der EU zu vertreten.

Der Politiker gehört der Partei Sinn Fein an, die hauptsächlich von katholischen Nationalisten unterstützt wird und Nordirland wieder mit Irland vereinen möchte. Der „Brexit“ mache eine Abstimmung über eine Abspaltung Nordirlands vom Königreich noch dringlicher, erklärte Sinn Fein unmittelbar nach der Entscheidung am Freitag.

Erst Ministerin weist Forderung zurück

Die Mehrheit der Bevölkerung in Nordirland stellen jedoch Protestanten, die Teil Großbritanniens bleiben wollen. Die Erste Ministerin Nordirlands, Arlene Foster, wies McGuinness’ Forderung nach einem Referendum umgehend zurück. „Und selbst wenn es eine Volksabstimmung gäbe, ist es unmöglich, dass sie zugunsten eines vereinten Irland ausginge“, sagte die Chefin der probritischen Demokratischen Unionistenpartei dem Radio Ulster. Der irische Premierminister Enda Kenny sagte, es gebe „derzeit wesentlich wichtigere Fragen“.

Proirische Katholiken und probritische Protestanten hatten einander 30 Jahre lang einen Bürgerkrieg geliefert, der mindestens 3.600 Menschen das Leben kostete und erst 1998 mit dem Abschluss des Karfreitagsabkommens endete.

Cameron: Nicht der richtige Kapitän

Nach dem „Brexit“-Votum zog am Vormittag der britische Premier Cameron die Konsequenzen: In seinem ersten Auftritt nach der Entscheidung der Briten für einen Austritt aus der EU kündigte er seinen Rücktritt an. „Ich glaube nicht, dass ich der richtige Kapitän bin, der unser Land an sein neues Ziel steuert.“

Cameron sagte am Vormittag, in drei Monaten, also bis zum Oktober, sein Amt übergeben zu wollen. Bis dahin wolle er weiter für Großbritannien da sein und „das Schiff stabilisieren“. Er sei stolz auf seine Arbeit als Premier, aber „das Land braucht eine frische Führung“, sagte er vor den schon seit der Früh wartenden Journalisten vor Downing Street 10. Die Queen habe er bereits informiert.

Der britische Premierminister David Cameron

APA/AFP/Odd Andersen

Camerons erster mit Spannung erwarteter Auftritt nach dem Votum

Cameron hatte das Referendum im Jänner 2013 unter dem Druck des europaskeptischen Flügels seiner Konservativen Partei angesetzt, sich selbst aber in der Kampagne vehement für den EU-Verbleib ausgesprochen. Das Votum der Briten ist daher auch eine persönliche Niederlage für Cameron.

„Kein Zweifel“ an Entscheidung

Es gebe Zeiten, in denen es richtig sei, die Bevölkerung nach ihrer Meinung zu fragen, und er respektiere die Entscheidung des Volkes. An dem Resultat gebe es „keinen Zweifel“, so Cameron. Gleichzeitig sagte er angesichts der erwarteten wirtschaftlichen Turbulenzen: „Die Wirtschaft ist stark.“ Man müsse sich jetzt auf neue Gespräche mit der EU vorbereiten, diese sollten von einem neuen Premier geführt werden.

Farage erwartet Dominoeffekt: „EU stirbt“

Die EU dürfte damit der schwersten Krise ihrer Geschichte gegenüberstehen. Die Zukunft für Großbritannien ist unklar. Klar ist, dass es wohl Jahre dauern wird, bis der Austritt vollzogen ist. Bis dahin bleibt London zumindest theoretisch ein vollwertiges EU-Mitglied. Der Chef der rechtspopulistischen UKIP-Partei, Nigel Farage, jubelte und sprach vom „neuen britischen Independence Day“. „Wir haben es geschafft, ohne dass eine einzige Kugel abgefeuert wurde“, sagte er - eine Woche nach der Ermordung der Labour-Abgeordneten Helen Joanne „Jo“ Cox.

Nigel Farage (UKIP)

Reuters/Toby Melville

Nigel Farage: Binnen weniger Stunden vom scheinbaren Verlierer zum Gewinner

„Die EU versagt, die EU stirbt“, sagte er am Freitag vor dem Parlamentsgebäude in London. Weitere Austrittsreferenden könnten folgen, möglicherweise in den Niederlanden, in Dänemark, Österreich und Italien. „Wir wollen Freunde und Nachbarn sein“, sagte Farage, der für die europafeindliche UKIP im EU-Parlament sitzt, „aber ohne Hymnen, ohne Flaggen und ohne nutzlose Präsidenten, die nicht gewählt sind“, sagte Farage.

Farage bricht erstes Wahlversprechen

Praktisch im selben Atemzug distanzierte sich Farage von einem zentralen Versprechen der „Brexit“-Kampagne. In der ITV-Sendung „Good Morning Britain“ sagte er, er könne nicht garantieren, dass wie von den „Brexit“-Befürwortern angekündigt 350 Millionen Pfund pro Woche statt an die EU nun an das Gesundheitssystem NHS gingen. „Das war einer der Fehler, den die ‚Leave‘-Kampagne gemacht hat“, sagte der EU-Parlamentarier am Freitag. Er selbst habe damit nicht geworben. „Sie müssen verstehen, dass ich von der Kampagne ausgeschlossen wurde und ich, wie immer, mein eigenes Ding gemacht habe.“

Johnson: EU war „edle Idee“

Als aussichtsreichster Nachfolgekandidat Camerons gilt der ehemalige Londoner Bürgermeister und einer der stärksten Befürworter eines „Brexit“, Boris Johnson. Er sagte Freitagmittag in einer Pressekonferenz, die EU sei eine „edle Idee“ gewesen, passe für sein Land aber nicht länger. „Es gibt jetzt keinen Grund zur Eile“, so Johnson. Großbritannien könne nun wieder seine Stimme in der Welt finden. Cameron zollte er großen Tribut - dieser sei „einer der außergewöhnlichsten Politiker“ dieser Zeit gewesen.

Johnson war in der „Brexit“-Kampagne Camerons schärfster innerparteilicher Gegner. Als weitere mögliche Nachfolgekandidaten werden Innenministerin Theresa May, Arbeitsministerin Priti Patel und Justizminister Michael Gove gehandelt.

Camerons Scherbenhaufen

Cameron dürfte als „Mister Referendum“ in die Geschichtsbücher eingehen: zuerst das schottische Unabhängigkeitsreferendum mit Mühe überstanden - nur um ein Jahr später aus wahltaktischen Gründen das EU-Referendum anzukündigen - das, wie es aussieht, Großbritannien aus der EU katapultiert. Seine Konservative Partei wurde durch das Referendum noch weiter gespalten. Nach seinem unerwarteten und grandiosen Wahlsieg im Vorjahr steht Cameron nun vor dem Scherbenhaufen seiner Taktik, vor der ihn von Beginn an viele gewarnt hatten.

Medienleute warten vor der Downing Street 10

APA/AFP/AFP/Odd Andersen

Journalisten lauern vor der Downing Street

Spätestens wenn neu gewählt wird, dürfte UKIP auch im britischen Parlament eine Macht sein. Für Labour ist das Ergebnis eine Katastrophe: Traditionelle Hochburgen gingen direkt an UKIP verloren.

TV-Hinweis

ORF2 berichtet den ganzen Tag in Sondersendungen laufend über den „Brexit“ und die Konsequenzen - mehr dazu in tv.ORF.at.

Neue Gräben durch Kampagne

Die viermonatige Wahlkampagne war eine der hitzigsten und härtesten, die Großbritannien jemals erlebt hat: Es hagelte hüben wie drüben Lüge- und Angstmach-Vorwürfe. Das Immigrationsthema wurde zum Kristallisationspunkt für alle Versäumnisse der britischen und europäischen Politik, mit teils offenem Rassismus. Der absolute Tiefpunkt wurde vor einer Woche erreicht, als die Labour-Abgeordnete Helen Joanne „Jo“ Cox ermordet wurde. In Umfragen schien das „In“-Lager in der Folge mehr Zulauf zu erhalten.

Die Kampagne offenbarte tiefe Gräben in der Gesellschaft - vor allem zwischen jenen - zahlenmäßig eher wenigen -, die von der Globalisierung profitieren, und jenen, die verlieren oder sich als Verlierer fühlen.

Hilflose Reaktion

Letztlich überwogen offenbar die Sorgen vor einer unkontrollierten Einwanderung und dem behaupteten Verlust der Souveränität und ein Protest der Arbeiterschaft des englischen Nordens. Die Warnungen eines Großteils der politischen und wirtschaftlichen Elite vor dramatischen wirtschaftlichen Folgen eines Alleingangs wurden in den Wind geschlagen - oder waren möglicherweise ein zusätzlicher Grund, für den „Brexit“ zu stimmen. „Die Menschen sorgen sich wegen der Sparpolitik und ihrer seit Jahren eingefrorenen Gehälter“, so der Finanzsprecher von Labour, John McDonnell. „Wir müssen beginnen, den Leuten zuzuhören“, so die Reaktion, die von Hilflosigkeit zeugt.

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