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„Nicht der richtige Kapitän“

Nach dem „Brexit“-Votum zieht der britische Premier David Cameron die Konsequenzen: In seinem ersten Auftritt nach der Entscheidung der Briten für einen Austritt aus der EU kündigte er seinen Rücktritt an. „Ich glaube nicht, dass ich der richtige Kapitän bin, der unser Land an sein neues Ziel steuert.“

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Cameron sagte am Vormittag, in drei Monaten, also bis zum Oktober, sein Amt übergeben zu wollen. Bis dahin wolle er weiter für Großbritannien da sein und „das Schiff stabilisieren“. Er sei stolz auf seine Arbeit als Premier, aber „das Land braucht eine frische Führung“, sagte er vor den schon seit der Früh wartenden Journalisten vor Downing Street 10. Die Queen habe er bereits informiert.

Der britische Premierminister David Cameron

APA/AFP/Odd Andersen

Camerons erster mit Spannung erwarteter Auftritt nach dem Votum

Cameron hatte das Referendum im Jänner 2013 unter dem Druck des europaskeptischen Flügels seiner Konservativen Partei angesetzt, sich selbst aber in der Kampagne vehement für den EU-Verbleib ausgesprochen. Das Votum der Briten ist daher auch eine persönliche Niederlage für Cameron.

„Kein Zweifel“ an Entscheidung

Es gebe Zeiten, in denen es richtig sei, die Bevölkerung nach ihrer Meinung zu fragen, und er respektiere die Entscheidung des Volkes. An dem Resultat gebe es „keinen Zweifel“, so Cameron. Gleichzeitig sagte er angesichts der erwarteten wirtschaftlichen Turbulenzen: „Die Wirtschaft ist stark.“ Man müsse sich jetzt auf neue Gespräche mit der EU vorbereiten, diese sollten von einem neuen Premier geführt werden.

Eine Grafik zeigt das regionale "Brexit"-Abstimmungsergebnis

Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA/Telegraph

In Großbritannien lebende EU-Bürger versuchte Cameron zu beruhigen. Es werde durch das Votum keine unmittelbaren Einschränkungen bei der Freizügigkeit geben. Europäer, die in Großbritannien leben, und Briten, die in Europa leben, seien in der nahen Zukunft nicht von der „Brexit“-Entscheidung betroffen, sagte Cameron am Freitag. Auch Londons Bürgermeister Sadiq Khan betonte, Europäer seien in der britischen Hauptstadt willkommen.

51,9 Prozent für Austritt

Die Briten hatten am Donnerstag mit 51,9 Prozent klar für einen EU-Austritt gestimmt, wie Freitagfrüh die britischen Behörden bestätigten. Nach Auszählung aller 382 Wahlkreise gab es 17,4 Millionen Stimmen für den Austritt und 16,1 Millionen für den Verbleib in der EU.

Farage erwartet Dominoeffekt: „EU stirbt“

Die EU dürfte damit der schwersten Krise ihrer Geschichte gegenüberstehen. Die Zukunft für Großbritannien ist unklar. Klar ist, dass es wohl Jahre dauern wird, bis der Austritt vollzogen ist. Bis dahin bleibt London zumindest theoretisch ein vollwertiges EU-Mitglied. Der Chef der rechtspopulistischen UKIP-Partei, Nigel Farage, jubelte und sprach vom „neuen britischen Independence Day“. „Wir haben es geschafft, ohne dass eine einzige Kugel abgefeuert wurde“, sagte er - eine Woche nach der Ermordung der Labour-Abgeordneten Helen Joanne „Jo“ Cox.

Nigel Farage (UKIP)

Reuters/Toby Melville

Nigel Farage: Binnen weniger Stunden vom scheinbaren Verlierer zum Gewinner

„Die EU versagt, die EU stirbt“, sagte er am Freitag vor dem Parlamentsgebäude in London. Weitere Austrittsreferenden könnten folgen, möglicherweise in den Niederlanden, in Dänemark, Österreich und Italien. „Wir wollen Freunde und Nachbarn sein“, sagte Farage, der für die europafeindliche UKIP im EU-Parlament sitzt, „aber ohne Hymnen, ohne Flaggen und ohne nutzlose Präsidenten, die nicht gewählt sind“, sagte Farage.

Farage bricht erstes Wahlversprechen

Praktisch im selben Atemzug distanzierte sich Farage von einem zentralen Versprechen der „Brexit“-Kampagne. In der ITV-Sendung „Good Morning Britain“ sagte er, er könne nicht garantieren, dass wie von den „Brexit“-Befürwortern angekündigt 350 Millionen Pfund pro Woche statt an die EU nun an das Gesundheitssystem NHS gingen. „Das war einer der Fehler, den die ‚Leave‘-Kampagne gemacht hat“, sagte der EU-Parlamentarier am Freitag. Er selbst habe damit nicht geworben. „Sie müssen verstehen, dass ich von der Kampagne ausgeschlossen wurde und ich, wie immer, mein eigenes Ding gemacht habe.“

TV-Hinweis

ORF2 berichtet den ganzen Tag in Sondersendungen laufend über den „Brexit“ und die Konsequenzen - mehr dazu in tv.ORF.at.

Johnson: EU war „edle Idee“

Als aussichtsreichster Nachfolgekandidat Camerons gilt der ehemalige Londoner Bürgermeister und einer der stärksten Befürworter eines „Brexit“, Boris Johnson. Er sagte Freitagmittag in einer Pressekonferenz, die EU sei eine „edle Idee“ gewesen, passe für sein Land aber nicht länger. „Es gibt jetzt keinen Grund zur Eile“, so Johnson. Großbritannien könne nun wieder seine Stimme in der Welt finden. Cameron zollte er großen Tribut - dieser sei „einer der außergewöhnlichsten Politiker“ dieser Zeit gewesen.

Johnson war in der „Brexit“-Kampagne Camerons schärfster innerparteilicher Gegner. Als weitere mögliche Nachfolgekandidaten werden Innenministerin Theresa May, Arbeitsministerin Priti Patel und Justizminister Michael Gove gehandelt.

Notenbank will bereitstehen

Die Folgen des Referendums sind noch unabsehbar: Die Notenbank, die Bank of England, versuchte Freitagfrüh zu kalmieren. Man stehe bereit, um Verwerfungen auf den Finanzmärkten einzudämmen. „Die Bank von England beobachtet die Entwicklungen genau“, teilte die Notenbank mit. Alle notwendigen Schritte würden unternommen, um Finanzstabilität zu gewährleisten. Die Bank von England habe ausgiebig für den Notfall geplant und arbeite eng mit dem britischen Schatzamt, weiteren heimischen Behörden sowie ausländischen Zentralbanken zusammen.

Die heftigen Finanzmarktverwerfungen nach der Entscheidung rufen auch die Europäische Zentralbank (EZB) auf den Plan. „Die EZB steht bereit, falls nötig, zusätzliche Liquidität in Euro und in Fremdwährungen bereitzustellen“, teilten die Euro-Wächter am Freitag mit. Die EZB habe sich auf diesen Notfall in engem Kontakt mit den Banken, die sie überwache, vorbereitet. Sie beobachte die Finanzmärkte genau und stehe in engem Kontakt mit anderen Zentralbanken.

Camerons Scherbenhaufen

Cameron dürfte als „Mister Referendum“ in die Geschichtsbücher eingehen: zuerst das schottische Unabhängigkeitsreferendum mit Mühe überstanden - nur um ein Jahr später aus wahltaktischen Gründen das EU-Referendum anzukündigen - das, wie es aussieht, Großbritannien aus der EU katapultiert. Seine Konservative Partei wurde durch das Referendum noch weiter gespalten. Nach seinem unerwarteten und grandiosen Wahlsieg im Vorjahr steht Cameron nun vor dem Scherbenhaufen seiner Taktik, vor der ihn von Beginn an viele gewarnt hatten.

Medienleute warten vor der Downing Street 10

APA/AFP/AFP/Odd Andersen

Journalisten lauern vor der Downing Street

Spätestens wenn neu gewählt wird, dürfte UKIP auch im britischen Parlament eine Macht sein. Für Labour ist das Ergebnis eine Katastrophe: Traditionelle Hochburgen gingen direkt an UKIP verloren.

Schottland: Neuer Anlauf für Unabhängigkeit

Neuen Aufwind gibt das Referendum den schottischen Unabhängigkeitsbefürwortern. Die schottische Regierungspartei SNP trachtet nach einem zweiten Volksentscheid zur Loslösung vom Königreich. „Ein zweites Unabhängigkeitsreferendum ist nun höchstwahrscheinlich“, sagte Schottlands Ministerpräsidentin und SNP-Parteichefin Nicola Sturgeon am Freitag.

Sie werde sich dafür einsetzen, Schottlands Platz in der Europäischen Union zu sichern, so Sturgeon. Ihre Landsleute im Norden der Insel hatten sich mehrheitlich für den Verbleib in der EU ausgesprochen, während Großbritannien insgesamt für den Austritt votierte. Die europafreundliche SNP war 2014 mit einem ersten Versuch, die Unabhängigkeit von Großbritannien zu erreichen, knapp gescheitert. Eine Loslösung von Großbritannien soll den Wiedereintritt Schottlands in die EU ermöglichen.

Mittelfristig ist auch unklar, ob der labile Frieden in Nordirland - nicht zuletzt durch EU-Millionen abgesichert - unter Druck gerät. Die links-nationalistische katholische Sinn-Fein-Partei in Nordirland kündigte an, verstärkt für ein Referendum zur Vereinigung mit Irland kämpfen zu wollen.

Neue Gräben durch Kampagne

Die viermonatige Wahlkampagne war eine der hitzigsten und härtesten, die Großbritannien jemals erlebt hat: Es hagelte hüben wie drüben Lüge- und Angstmach-Vorwürfe. Das Immigrationsthema wurde zum Kristallisationspunkt für alle Versäumnisse der britischen und europäischen Politik, mit teils offenem Rassismus. Der absolute Tiefpunkt wurde vor einer Woche erreicht, als die Labour-Abgeordnete Helen Joanne „Jo“ Cox ermordet wurde. In Umfragen schien das „In“-Lager in der Folge mehr Zulauf zu erhalten.

Die Kampagne offenbarte tiefe Gräben in der Gesellschaft - vor allem zwischen jenen - zahlenmäßig eher wenigen -, die von der Globalisierung profitieren, und jenen, die verlieren oder sich als Verlierer fühlen.

Hilflose Reaktion

Letztlich überwogen offenbar die Sorgen vor einer unkontrollierten Einwanderung und dem behaupteten Verlust der Souveränität und ein Protest der Arbeiterschaft des englischen Nordens. Die Warnungen eines Großteils der politischen und wirtschaftlichen Elite vor dramatischen wirtschaftlichen Folgen eines Alleingangs wurden in den Wind geschlagen - oder waren möglicherweise ein zusätzlicher Grund, für den „Brexit“ zu stimmen. „Die Menschen sorgen sich wegen der Sparpolitik und ihrer seit Jahren eingefrorenen Gehälter“, so der Finanzsprecher von Labour, John McDonnell. „Wir müssen beginnen, den Leuten zuzuhören“, so die Reaktion, die von Hilflosigkeit zeugt.

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