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Ein Lehrstück - und viele Mythen

„Ich kam nach Jugoslawien, um zu sehen, was Geschichte aus Fleisch und Blut bedeutet“, schrieb die US-Journalistin Rebecca West 1937 in ihr Reisetagebuch, das ihr unter dem Titel „Black Lamb, Grey Falcon“ Weltruhm einbringen sollte (und sich zugleich einreiht in eine Serie von Verklärungen des „dunklen“ Balkan). West sollte wenig später in tragischer Weise Recht bekommen. Und auch das ab 1943 unter Führung Titos konstruierte Jugoslawien erwies sich als fragiles Gebilde, das spätestens mit dem Tod Titos seine Vielvölkerkonstruktion nicht mehr aufrechterhalten konnte.

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Als sich Slowenien und Kroatien vor 25 Jahren, am 25. Juni 1991, auf der Grundlage davor abgehaltener demokratischer Referenden für unabhängig erklärten, leitete das ein Finale für einen Staat ein, der tief zerrissen zwischen den Alleingängen seiner Republiken am Boden lag - und durch Verfassungsänderungen in Serbien 1989 und 1990 nur in der Widerspruchsform existierte.

Wappen der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien

Srpskicrv cc by-sa 3.0

Wappen mit Gründungsdatum der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien

„Jugoslawien war ein Staat, ein soziales Gefüge und ein Mythos“, schreibt der Historiker Holm Sundhaussen: „Als Staat war es nach außen auf Statik angelegt: mit einem Territorium, klaren Grenzen und Hoheitsrechten, abgesichert durch internationale Verträge. Im Inneren, als soziales Gefüge, war es ein Prozess. Und am Ende dieses Prozesses gab es Jugoslawien nicht mehr. Auch der Mythos war verblasst, obwohl er nicht völlig verschwand.“

Politischer Jugoslawismus

Trotz oder gerade wegen der Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs hatte man sich bereits im November 1943 mit den sogenannten AVNOJ-Beschlüssen im zentralbosnischen Jaijce für einen zentralistischen Föderalismus bzw. politischen Jugoslawismus entschieden und die Wiederholung des Fehlers, wie in der Zwischenkriegszeit, nämlich eine Art völkischen Jugoslawismus zu proklamieren, vermieden. Die Völker Jugoslawiens sollten gleichberechtigt sein, ja manche unter ihnen, etwa die Serben, für diese Gleichberechtigung ein bisschen mehr hergeben als andere.

Tagung der AVNOJ (Antifaschistischer Rat der Nationalen Befreiung Jugoslawiens) in Jajce, 1943

Public Domain

Tagung der kommunistischen AVNOJ in Zentralbosnien im Jahr 1943. Die Gruppe um Tito setzt sich mit ihrem Ansatz für ein neues Jugoslawien gegen die Exilregierung in London durch - und wird noch nachhaltig Genossen Stalin irritieren.

„Wir haben uns so durchmischt, dass wir uns einigen müssen, selbst wenn wir einander auch vollkommen fremd wären“ - das etwa hielt Stjepan Radic, Chef der kroatischen Bauernpartei, fest. Zur Zeit dieses Ausspruchs schrieb man die 1920er Jahre. „Zwischen uns lässt sich keine Grenze ziehen, nicht einmal in einem Bürgerkrieg können wir einzelne Gebiete säubern“, schrieb er - doch die Geschichte 1939 bis 1948, aber auch in den 1990er Jahren, sollte eine andere, tragische Erkenntnis bringen.

Karte zeigt den ehemaligen Vielvölkerstaat Jugoslawien

Grafik: APA/ORF.at; Quelle: APA

Eine Frage der Anerkennung

Ab den 1980er Jahren vollzog sich die Erosion Jugoslawiens zunächst langsam. Viele verdrängte Themen kamen aber bald zurück, fielen auf sehr fruchtbaren Boden und wirkten wie Brandbeschleuniger. In den Prozess der Auflösung Jugoslawiens waren gerade die Intellektuellen tief verstrickt. In wenigen anderen Ländern bekleideten etwa so viele Schriftsteller und Dichter politische Ämter - oder waren Dissidenten gegen das alte System.

„Nach Titos Tod fehlte die Figur, die das grundlegende integrative Band im sozialistischen Jugoslawien war“, erinnert sich Milan Kucan, letzter Parteichef der Kommunistischen Partei Sloweniens und erster Präsident der danach freien jugoslawischen Ex-Republik im Norden, im Gespräch mit ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz für die „Zeit im Bild History“.

Die Wirtschaftskrise in den 1980ern habe sich zu einer politischen und moralischen Krise ausgewachsen: „Kompromittiert war die Idee des Sozialismus, die die Völker Jugoslawiens vereint hatte. Schließlich zerfiel im Jänner 1990 der Bund der jugoslawischen Kommunisten durch unseren Auszug aus dem Parteikongress. Dann zerfiel der gemeinsame jugoslawische Markt wegen der Blockade durch Serbien. Somit blieb nur die Jugoslawische Volksarmee, die als multinationale Gemeinschaft nicht der Garant für das Fortbestehen des gemeinsamen Staates sein konnte. All diese Faktoren zeigten, dass ein Zusammenleben nicht mehr möglich war.“

„Hofften auf einen friedlichen Weg“

„Wir hofften weiter auf einen friedlichen Weg, weil wir uns bewusst waren, dass die Alternative nur ein blutiger und tragischer Zerfall sein konnte, der sich dann leider auch ereignet hat“, so Kucan rückblickend.

Der ehemalige Präsident der Republik Slowenien Milan Kucan, 1994

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Erster Präsident in einem jugoslawischen Nachfolgestaat: der Slowene Milan Kucan

Ab dem Sommer 1991 brachten Österreich und Deutschland den Zerfall des Staates Jugoslawien auf die internationale Bühne. In vielen Ländern Europas und auch in Washington sah man damals Belgrad als Ansprechpartner. In der Bundesregierung selbst gab es zunächst einen heftigen Dissens über den Anerkennungskurs zwischen Vizekanzler Erhard Busek und Außenminister Alois Mock (beide ÖVP) auf der einen und Kanzler Franz Vranitzky (SPÖ) auf der anderen Seite.

Tribalismus und Populismus

Beschleunigt wurde der Zerfall Jugoslawiens in den Jahren 1986 und 1987. In Serbien kam es zur „antibürokratischen Revolution“ rund um den ehemaligen Bankdirektor Slobodan Milosevic, zur Neuausrichtung der serbischen KP und zur von Milosevic eigentlich spät entdeckten Verzahnung von Populismus und nationalem Tribalismus.

Im Norden Jugoslawiens wurden die Autonomiebestrebungen Sloweniens zugleich immer deutlicher artikuliert. Den serbischen Problemen um den Mythos Kosovo stand man dort ohnedies mit Ablehnung oder Gleichgültigkeit gegenüber.

Der ehemalige serbische Präsident Slobodan Milosevic während seiner Amselfeld-Rede, 1989

picturedesk.com/EPA/Rade Prelic

Suche nach der Massenmobilisierung: Eigentlich waren Großveranstaltungen nicht das Spezialgebiet von Slobodan Milosevic, befanden seine Biografen

Brandbeschleuniger für das Auseinanderbrechen Jugoslawiens waren neu aufgewärmte, nationale Mythen: das Erstarken albanisch-nationalistischer Tendenzen im Kosovo ab 1980 auf der einen Seite, der Mythos vom Genozid an den Serben (angefacht von der serbisch-orthodoxen Kirche über die Zeitschrift "Pravoslavje) auf der anderen. Hinzu kam eine Gegenüberstellung, die über Print und TV verstärkt wurde: hier die Apparatschiks des alten Systems, da die neue Kraft und der Wille des Volkes (der je nach Teilrepubliken anders zu definieren war).

„Das Volk kann nicht mehr leiden“

„Das Volk hat gesprochen“, „das Volk kann nicht mehr leiden“, „das Volk ist der beste Richter“ waren Sätze, die in TV und Zeitungen gebetsmühlenartig wiederholt wurden und die Milosevic bei der Neuausrichtung der serbischen KP gegen die damalige jugoslawische Staats- und Parteiführung in der Zeitung „Politika“ so ins Treffen führte: „Die politische Führung stellt sich entweder an die Spitze des Volkes und erhört seine Stimme oder sie wird von der Zeit weggespült.“

Die Erkenntnis, dass sich mit der nationalen Karte die meiste Mobilisierung erreichen wird, sollte Milosevic 1989 am Veitstag zum legendären Auftritt auf dem Amselfeld (Kosovo polje) führen, bei dem zwar eine Million Menschen zugegen war - aber niemand eine offizielle Version seiner Rede aufzeichnen konnte. Erregungen, wie sie dazu in deutschen Zeitungen wie der „Frankfurter Allgemeinen“ kolportierte wurden, lassen sich weniger aus dem überlieferten Text denn aus der Symbolik und Mobilisierungskraft der Veranstaltung ablesen.

Kroatien und die ultranationale Karte

Im selben Jahr hatte sich wiederum in Kroatien die rechtsnationale HDZ gegründet und den ehemaligen Tito-General Franjo Tudjman zu ihrem Parteichef gekürt. Den erstarkenden serbischen Nationalismus konterte man in Kroatien mit Visionen vom „tausendjährigen Wunsch des kroatischen Volkes“ nach Unabhängigkeit.

Doch Milosevic, erinnert der Südeuropa-Experte Sundhaussen, habe die nationalistische Wende in den serbischen Diskursen nicht eingeleitet, sondern sei „lediglich auf den fahrenden Zug aufgesprungen“; dies ganz im Gegensatz zu Tudjmann, der sich als großer nationalistischer Kommunikator erwiesen habe: „Feste Überzeugungen waren Milosevic eher fremd.“

Spätestens mit dem Fall der Berliner Mauer, besonders aber im Jahr 1990 erhöht sich die Taktfrequenz des Zerfalls. Am 23. Jänner 1990 verlässt die slowenische Delegation aus Protest gegen Serbien den 14. Außerordentlichen Parteitag des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens; Kroatien zieht in gleicher Richtung nach. Bei den ersten freien Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in Slowenien siegt im April 1990 das Mitte-rechts-Bündnis Demos. Die Wahl des ehemaligen KP-Chefs Kucan zum Staatspräsidenten beschleunigt die Verselbstständigung Sloweniens.

Eskalation der nationalen Frage

Im April und Mai 1990 gewinnt in Kroatien die rechtsnationalistische HDZ Tudjmans die Parlamentswahlen. Auch hier macht das Ergebnis rasch deutlich, dass Jugoslawien bestenfalls als Konföderation überleben könnte. Eine Unabhängigkeit, wie im Fall Sloweniens, würde, so macht es die Situation im national heterogenen Kroatien deutlich, viel schwerer zu realisieren sein. Und in Kroatien setzt man schwer auf die nationale Karte.

Der ehemalige Präsident Kroatiens Franjo Tudjman, 1994

Reuters/Joachim Herrmann

Franjo Tudjman, Kommunikator des kroatischen Selbstbewusstseins. „Die HDZ trug massiv zur Eskalation nationaler Spannungen bei“, befindet Historiker Sundhaussen.

„Die HDZ“, so Sundhaussen, „trug massiv zur Eskalation der nationalen Spannungen bei; ein mit nationalistischen Parolen geführter Wahlkampf, befeuert von fanatischen Gruppen im Exil, musste die 600.000 Serben der Republik zutiefst beunruhigen.“

Im Raum stand die Rehabilitierung von Ustascha-Emigranten wie überhaupt eine komplette Umdrehung der jugoslawischen Erinnerungskultur. „Ich bin kein Individuum mehr, ich bin keine Person. Ich bin eine von vier bis fünf Millionen Kroaten“, hielt die Zagreber Schriftstellerin Slavenka Drakulic den neuen Chauvinismus in ihrer Heimat fest.

„Wir haben bewusst abgeschrieben“

Die neue kroatische Verfassung, die das Parlament im Dezember 1990 beschlossen hatte, glich bis auf eine Präambel, die die kroatische Geschichte aus nationalistischer Sicht zusammenfasste, jener Serbiens. Oder wie der spätere kroatische Staatspräsident und einstmalige Vertreter Kroatiens im jugoslawischen Staatspräsidium, Stipe Mesic, festhielt: „Genau das, was Serbien geschrieben hat, das hat auch Kroatien geschrieben. Wir haben bewusst abgeschrieben.“

2016 fällt der Rückblick Mesic’ auf den Zerfall Jugoslawiens gegenüber dem ORF so aus:

„Der Hauptgrund, dass es nicht zu einer friedlichen Lösung kam, war das Scheitern, einen neuen politischen Vertrag in Jugoslawien zu erreichen. In Jugoslawien gab es drei integrative Faktoren, Tito, die kommunistische Partei und die Armee, die Tito und der Partei diente. Tito war weg, die Partei zerfiel und die Armee suchte einen neuen Geldgeber. Der stärkste war Slobodan Milosevic, der in Serbien an die Macht gekommen war. Er wollte keine politische Vereinbarung. Als ich Vorsitzender des jugoslawischen Staatspräsidiums wurde, schlug ich folgenden Beschluss vor: Die Teilrepubliken sollten ihre Selbstständigkeit erklären und sofort eine Konföderation bilden, die drei bis fünf Jahre dauern sollte. Dann sollten wir weitersehen, aber alle Wege sollten nach Europa führen. Doch Milosevic wollte keinerlei Vereinbarung. Er wollte auf den Ruinen Jugoslawiens ein ethnisch reines Großserbien schaffen. Dieser Plan war nur durch Krieg zu erreichen, und so entschloss er sich zum Krieg.“

„Riskante Zusammenarbeit mit Kroatien“

Für den Slowenen Kucan war die Zusammenarbeit mit Kroatien, wie er sich nun gegenüber dem ORF erinnert, auch nicht ohne Risiko: „Wir wussten, dass die Zusammenarbeit mit Kroatien riskant sein konnte, und zwar wegen der vielen Serben, die in Kroatien lebten und die ein konstitutiver Bestandteil dieses Staates waren. Damals dominierte in Kroatien die nationalistische These, wonach Kroatien nur der Staat des kroatischen Volkes ist und dass die Serben eine Minderheit sind. Das akzeptierten die Serben nicht, die historisch in Kroatien lebten.

Die internationale Gemeinschaft habe geregelte Verhältnisse zu den Minderheiten gefordert, so Kucan, der auf das Verhältnis zur italienischen und ungarischen Volksgruppe verweist, die damals die Unabhängigkeit Sloweniens unterstützt hätten. Dass man selbst keine Probleme hatte, die Kroaten und Serben aber sehr wohl, „bedrohte auf gewisse Weise das Projekt der Unabhängigkeit“: „Doch zu unserm Glück und zum Unglück von Bosnien und Herzegowina, erkannte die Internationale Gemeinschaft Slowenien und Kroatien schnell an, weil die Haltung dominierte, dass damit die Leidenschaften in Bosnien und Herzegowina gedämpft werden könnten.“

Bücher zum Thema

  • Joze Pirjevec: Tito. Die Biografie, 720 Seiten, Verlag Antje Kunstmann, 39,95 Euro.
  • Christian Wehrschütz: Brennpunkt Balkan: Blutige Vergangenheit - Ungewisse Zukunft, 240 Seiten, Styria, 24,99 Euro
  • Holm Sundhaussen: Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943 – 2011. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen, 567 Seiten, Böhlau Verlag, 59,00 Euro.

Der Krieg an der Grenze

Slowenien erklärt seine Unabhängigkeit am 25. Juni 1991, einen Tag später im Parlament: Prominentester ausländischer Politiker bei dieser Veranstaltung ist der damalige Wiener Bürgermeister Helmut Zilk. Doch schon in der Nacht auf den 27. Juni rollen die ersten Panzer der Jugoslawischen Volksarmee. Für Österreich steht plötzlich ein kriegerischer Konflikt direkt vor der Grenze. In Spielfeld wird ein Lkw-Konvoi von der Volksarmee aus der Luft beschossen, beim Grenzübergang Bleiberg fallen zwei Menschen bei Gefechten. Das Bundesheer muss schnell über einen Grenzeinsatz entscheiden, während man in der Regierungskoalition noch in der Anerkennungsfrage gespalten ist.

Das österreichische Bundesheer sichert den Grenzübergang Spielfeld, 1991

picturedesk.com/Klaus Titzer

Der Jugoslawien-Konflikt erreicht im Juni 1991 die österreichische Grenze und zwingt das Bundesheer, Position zu beziehen

Am 7. Juli 1991 kann der zehntägige Konflikt, der immerhin 80 Menschen das Leben kostet, auf der ehemaligen Tito-Sommerinsel Brioni auf Vermittlung der EG durch ein Waffenstillstandsabkommen beigelegt werden. Serbien unter Milosevic, damals schon zentraler Player der jugoslawischen Politik, war offenkundig bereit, Slowenien, wo keine Serben lebten, ziehen zu lassen.

Im Verhältnis von Kroatien und Serbien, vor allem aber auf dem Territorium von Bosnien-Herzegowina, sollte die Auseinandersetzung um den zerbrechenden Vielvölkerstaat eine weitaus dramatischere Entwicklung nehmen, die nicht zuletzt die Unzulänglichkeit des Handelns der UNO freilegte. Eingegriffen wurde erst, als der Konflikt an allen Ecken brannte. Und Europas Intellektuelle erwiesen sich Mitte der 1990er Jahre als große Experten in Verfassungs- und Völkerrechtsfragen.

Die Interviews für die „ZIB2 History“ führte Christian Wehrschütz, ORF-Belgrad

Gerald Heidegger, ORF.at (Text)

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