Verhandlungen könnten Jahrzehnte dauern
Ein Kreuz beim Nein ist schnell gemacht, doch dabei bleibt es nicht: Geht es nach Analysten wie dem „Global Counsel“, könnte zwischen einem Nein der Briten beim Referendum zur EU-Mitgliedschaft und der endgültigen Neugestaltung der Beziehung zwischen London und Brüssel durchaus ein Jahrzehnt vergehen.
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Sollten die Briten sich tatsächlich mehrheitlich gegen einen Verbleib in der EU aussprechen, muss das im ersten Schritt dem Europäischen Rat mitgeteilt werden. Dann hat die Regierung des Landes gemäß Artikel 50 des EU-Vertrags („Jeder Mitgliedsstaat kann im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten“) zwei Jahre Zeit, um die Konditionen zu verhandeln.
Drei Jahre für grönländischen Fisch
2019 wäre der Austritt dann offiziell. Danach müsse das Land alle Bereiche der EU verlassen, auch wenn es noch kein neues Abkommen gibt. Ein Ende des Feilschens ist damit noch lange nicht in Sicht. Wahrscheinlich ist dabei übrigens, dass diese nicht mehr von der aktuellen Regierung des Torys David Cameron geführt wird. Ein „Nein“ würde wohl Camerons politisches Ende markieren - er wirbt derzeit dafür, dass Großbritannien Teil der EU bleibt.
Neben dem „Global Counsel“ hält es auch der britische Europaminister David Lidington für realistisch, dass Neuverhandlungen mindestens ein Jahrzehnt in Anspruch nehmen werden. Selbst das kleine Grönland habe nach seinem Ausscheiden aus der Union drei Jahre gebraucht, um mit der EU einen neuen Vertrag zu schließen, so Lidington. Und dabei sei es nur um das eine Thema Fisch gegangen. „Es wäre sehr schwierig, die Verhandlungen innerhalb von zehn Jahren abzuschließen.“
Politisch-diplomatischer Marathon
Nach dem offiziellen Teil würde der eigentliche harte Brocken folgen. Dem Land stünde ein politisch-diplomatischer Marathon bevor, dessen Ziel die Neuverhandlung bestehender Vereinbarungen ist. Es ginge vor allem um neue Gesetze und Verträge - Großbritannien müsste seine (Handels-)Beziehung zur EU und dem Rest der Welt neu definieren und gleichzeitig jene Lücken schließen, die ein Außerkrafttreten der EU-Gesetzgebung nach sich ziehen würde.
Denn bereits seit 1972 gilt in Großbritannien der Grundsatz, dass EU-Recht über nationalem Recht steht - ein Prinzip, das in den darauffolgenden Jahrzehnten vertieft wurde, in letzter Zeit aber wieder erodiert. Wie Damian Chalmers, Professor für Europäisches Recht an der London School of Economics, dem „Telegraph“ erklärte, nimmt EU-Recht derzeit Vorrang ein, „solange das Parlament ausdrücklich sagt, dass dies nicht der Fall ist, oder britische Gerichtshöfe glauben, dass die EU ihre Macht überschritten hat“.
14 bis 17 Prozent aus EU-Recht
Laut einer Studie des Unterhauses aus dem Jahr 2010 ergaben sich rund 14 bis 17 Prozent der gesamten britischen Gesetzgebung aus der EU-Mitgliedschaft des Landes. Dieselbe Studie geht davon aus, dass sich rund 50 Prozent der Gesetze mit „erheblichem Einfluss“ auf die Wirtschaft von EU-Recht ableiten. Davon wiederum beziehen sich 60 Prozent auf die Landwirtschaft.
Bereiche wie die Landesverteidigung und der öffentliche Dienst bleiben von EU-Einmischungen quasi unberührt, während Großbritannien in anderen Bereichen wie außenpolitischen Fragen oder Steuern entweder durch das Vetorecht oder die qualifizierte Mehrheit geschützt ist. In gewissen Bereichen gebe es dementsprechend mehr, in anderen weniger Handlungsbedarf.
Europäische Spielregeln würden bleiben
Eine oft bemühte Forderung ist die Befreiung des Kleinunternehmertums vor überbordender EU-Bürokratie. Doch auch hier wäre nach einem „Brexit“ keine einfache Lösung in Sicht. Denn wenn britische Betriebe in die EU exportieren wollen, dürfte Brüssel mit ziemlicher Sicherheit auf die Einhaltung europäischer Spielregeln pochen.
Und Querelen könnten sich bei Abschaffung des EU-Rechts auch im innenpolitischen Bereich ergeben. Viele EU-Richtlinien zielen in Großbritannien auf Arbeitnehmerschutz ab, wie etwa die Temporary Workers Directive, die über Arbeitsagenturen Beschäftigten nach zwölf Wochen Beschäftigung dieselben Rechte wie dauerhaft Angestellten sichert. Eine Abschaffung der im Sinne des Arbeitnehmers geltenden EU-Regeln dürfte der Regierung scharfen Gegenwind von Gewerkschaften sowie anderen Teilen der Öffentlichkeit verschaffen.
Grundsätzlich würde eine Abkehr vom EU-Recht den nationalen Spielraum um ein Vielfaches erhöhen, gerade dort, wo es um konkrete Widersprüche zwischen nationalen Zielen und dem EU-Recht geht. Als konkrete Beispiele führt der „Telegraph“ etwa die Entwicklung genetisch manipulierten Saatguts, die Vorratsdatenspeicherung und die Fischereigründe an. Ob Großbritannien ohne EU-Recht letztlich besser, schlechter oder gleich gut dastünde, darüber lässt sich derzeit allerdings nur orakeln.
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