Themenüberblick

Prüfung möglicher Verfehlungen beginnt

Nach mehr als fünf Jahren an der Macht ist Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff vorübergehend ihres Amtes erhoben worden. Der Senat stimmte nach über 20 Stunden Sitzungsdauer für eine Suspendierung von bis zu 180 Tagen: 55 Senatoren waren dafür, 22 dagegen.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

Am Donnerstag bekam sie die entsprechende Mitteilung des Senats im Präsidentenpalast überreicht und musste diese unterzeichnen. Damit wird der Weg frei für ihren bisherigen Vize Michel Temer von der Partei der demokratischen Bewegung (PMDB). Er übernahm offiziell die Aufgaben als Interimspräsident und unterzeichnete am Donnerstag ein entsprechendes Dokument, nachdem Rousseff den Regierungspalast, den von Oscar Niemeyer geplanten Palacio do Planalto, verlassen hatte.

Temer stellte umgehend ein wirtschaftsfreundliches Kabinett. Der Mitte-rechts-Politiker ernannte am Donnerstag in der Hauptstadt Brasilia den früheren Zentralbank-Chef Henrique Meirelles zum Finanzminister, wie ein Berater von Temer der Nachrichtenagentur AFP sagte. Außenminister wird der frühere Gouverneur von Sao Paulo, Jose Serra.

„Das ist ein wahrhaftiger Putsch“

Rousseff hatte zuvor bei ihrer vorerst letzten Stellungnahme im Palacio do Planalto gesagt: „Ich bin von 54 Millionen Brasilianern legal gewählt worden.“ Das Amtsenthebungsverfahren gegen sie sei nicht gerechtfertigt. „Das ist ein wahrhaftiger Putsch.“ Die Demokratie in Brasilien sei „in einer entscheidenen Phase“, sagte die in Weiß gekleidete Rousseff. Ihre Anhänger riefen: „Dilma, Kriegerin des brasilianischen Vaterlands.“

Sie habe sich nichts zuschulden kommen lassen, sagte Rousseff. „Es gab kein Verbrechen.“ So seien sechs Dekrete zur Vergabe staatlicher Kredite korrekt gewesen. Die PMDB hatte mit dem Koalitionsbruch den Sturz eingeleitet und war in das Lager der Befürworter einer Amtsenthebung umgeschwenkt. Rousseff bezeichnet Temer als „Verräter“ und die Vorwürfe als vorgeschoben.

Aberkennung aller politischen Rechte droht

Das weitere Porzedere steht nun im Zeichen der Ermittlungen: Der Senat leitet einen Prozess ein, in dem die Vorwürfe gegen die Präsidentin untersucht werden. Geleitet wird er vom obersten Richter Ricardo Lewandowski. Die Parlamentskammer hat für das Verfahren 180 Tage Zeit. Beobachter rechnen aber damit, dass angesichts der politischen Lähmung des Landes und seiner desolaten Wirtschaftslage dieses Verfahren schneller abgeschlossen wird.

Brasiliens Senat

Reuters/Ueslei Marcelino

Der Senat trat zu einer Marathonsitzung zusammen

Sollten zwei Drittel der 81 Mitglieder des Senats am Ende des Prozesses für eine Amtsenthebung stimmen, verliert Rousseff alle politischen Rechte. Außerdem darf sie dann acht Jahre lang nicht in ein politisches Amt gewählt werden. Temer würde für den Rest ihrer offiziellen Amtszeit bis zum 31. Dezember 2018 als Präsident bestätigt.

Wechsel vorbereitet

Der 75-jährige Temer traf sich noch während der Sitzung mit Vertrauten in seinem Amtssitz in Brasilia, um den Wechsel vorzubereiten. Mit der Übernahme durch Temer führt zumindest für das nächste halbe Jahr erstmals seit 2003 eine Regierung ohne Beteiligung der Arbeiterpartei das Land. Einen letzten Einspruch der Regierung gegen das Absetzungsverfahren wies der Oberste Gerichtshof des Landes am Mittwoch zurück. Temer eröffnet auch die Olympischen Spiele am 5. August in Rio.

Weniger Ministerien

Der bisherige, erst vor wenigen Wochen ernannte Sportminister Ricardo Leyser soll zur Wahrung der Kontinuität nicht abgelöst werden, ebenso wie Zentralbankchef Alexandre Tombini. Bisher gibt es 31 Ministerien, Temer will die Zahl verringern. Bisher gab es solch ein Verfahren in Brasilien erst einmal. 1992 wurde Fernando Collor de Mello nach Korruptionsvorwürfen suspendiert - und trat schließlich zurück. Er ist heute Senator und verurteilte die Regierung als katastrophal.

Rousseff, seit 2011 an der Macht, war zuletzt eine Präsidentin ohne Fortune, mitunter aufbrausend, mit weniger Volksnähe und Charisma als ihr Vorgänger Luiz Inacio Lula da Silva. In dessen Amtszeit wuchs die Wirtschaft kräftig, auch dank der sprudelnden Öleinnahmen.

Land politisch handlungsunfähig

Rund 40 Millionen Menschen seien dank Sozialprogrammen und Mindestlöhnen aus der Armut befreit worden, betonte Rousseff. Nun ist das Land in einer tiefen Rezession, ein Korruptionsskandal aus Lula da Silvas Amtszeit hat Rousseff eingeholt, sie war damals Aufsichtsratschefin des im Fokus stehenden Petrobras-Konzerns. Über elf Millionen sind arbeitslos.

Seit Wochen ist das Land wegen des Ringens um ihre Amtsenthebung politisch handlungsunfähig. Als sich die klare Zustimmung zu der Suspendierung Rousseffs abzeichnete, stieg der Kurs an der Börse in Sao Paulo, und der Real gewann gegenüber dem Dollar, der Wechselkurs lag bei eins zu 3,44 Dollar. Temer will mit Privatisierungen und Entlassungen im Staatsdienst das hohe Defizit in den Griff bekommen.

Während der nächtlichen Debatte des Senats in der Hauptstadt Brasilia kam es erneut zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei. Die Sicherheitskräfte setzten Tränengas gegen Anhänger Rousseffs ein, die ihrerseits mit brennenden Fackeln warfen. Etwa 6.000 Befürworter eines Amtsenthebungsverfahrens riefen „Rousseff raus!“.

Umweltschützer beunruhigt

Umweltschützer fürchten eine neue Abholzungswelle im Amazonas-Regenwald unter dem brasilianischen Interims-Präsidenten Michel Temer. „Mit der Suspendierung Rousseffs steht der Amazonas wieder im Fadenkreuz der Industrie“, sagte der Brasilien-Referent der Umweltstiftung WWF, Roberto Maldonado, am Donnerstag.

Rousseff habe „zumindest die schwersten Zerstörungsfantasien der Agrar-, Bergbau- und Bauindustrie nicht umgesetzt“. Nun würden die Anhänger einer Wachstumsideologie das Zepter übernehmen. „Temer wie auch die Mehrheit der Senatoren machen aus ihrer Nähe zur Industrie keinen Hehl“, sagte Maldonado.

Sorgen wegen Abholzungen

Der WWF fürchtet, dass es in Brasilien zu einer bereits länger diskutierten Verfassungsänderung (PEC 215) kommen könnte, die den Schutz bisher geschützter Zonen aufheben kann, wenn wirtschaftliche Interessen dafür sprechen. Die Abholzung hatte zuletzt schon wieder zugenommen, auch um Platz für den Sojaanbau zu schaffen.

Zudem gibt es Sorge wegen vieler illegaler Abholzungen edler Tropenhölzer. Der Amazonas-Regenwald gilt durch die Aufnahme von Kohlendioxid als ein für das Weltklima äußerst wichtiges und zugleich sehr empfindliches Ökosystem. Durch die Abholzung steigt gebundenes Kohlendioxid in die Atmosphäre, das die Erwärmung beschleunigen kann.

Links: