Flucht unmöglich, außer für Tom Lasker
Nicht umsonst sind die Tagebücher der Anne Frank ein ewig gültiges Zeugnis der Zeitgeschichte für Menschen rund um die Welt. Kaum etwas macht die Erfahrung der Verfolgung so spürbar wie die eigenen Worte der Verfolgten, umso mehr, wenn es die Stimmen von Kindern sind. Österreich hat ein ähnliches Juwel, von dem es aber bisher nichts wusste: die Bücher des zehnjährigen Hans Georg Friedmann.
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Wo Anne Frank in ihrem Amsterdamer Versteck das Geschehen um sie dokumentierte, ging Hans Georg Friedmann, als er zwischen 1939 und 1942 in einer „Sammelwohnung“ in Wien-Leopoldstadt mit seiner Familie eingepfercht war, den entgegengesetzten Weg: Er träumte sich mit selbst verfassten Abenteuerkrimis weit fort von seinem Alltag. Tom Lasker heißt der von ihm erfundene Superdetektiv, und beide erlebten „Abenteuer in aller Welt“ statt der Realität der Nazi-Diktatur.

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Das einstige Haus der Friedmanns
Zertrümmerter Lebensweg
Als der Bub seine Krimireihe mit „Überfall auf Mexiko-Express“ begann, lag das, was davor seine Realität gewesen war, in Trümmern. Die Familie hatte es bis 1938 mit Fleiß zu Wohlstand gebracht. Das schmucke Haus in der Sankt-Veit-Gasse 15 in Wien-Hietzing lag nur einen kurzen Fußweg vom Gymnasium Fichtnergasse entfernt, wo Hans Georg im Herbst mit dem Unterricht beginnen hätte sollen. Er durfte nicht mehr: Am 12. März 1938 wurde Österreich Teil der Nazi-Diktatur.
Die Familie wurde wie Tausende andere ihres Vermögens, ihres Zuhauses und all ihrer Rechte beraubt. Die 13 Bände waren Hans Georgs Flucht, wo keine Flucht mehr möglich war. Er muss ein begeisterter Leser der damals populären Heftromanserien wie „Ralf Torring“ und „Tom Shark“ gewesen sein. Bis ins Detail (Von Titelzeichnungen über den Vermerk „Dieses Buch ist Eigentum des Verfassers“ bis zum Hinweis auf die bereits erschienenen Bände der Reihe) imitiert er die Vorbilder - und sagt doch viel über sich selbst.
Es geht gut aus
Auch wenn es nach außen hin um den eleganten und knallharten Detektiv Lasker mit seinen Freunden Fred Gunball und Loja, um exotische Orte, rätselhafte Fälle und abgefeimte Gangster geht: Das erlebte Trauma scheint oft genug durchzuschimmern. Da gibt es „gräuliche Gespenster“, die „Vernichte die Welt“ mit Feuer in den Himmel schreiben, da gibt es zu Unrecht Verfolgte und Verlachte, so auch Laskers Kumpan Loja, der als Afroamerikaner beschimpft und geringgeschätzt wird.

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Der letzte Aufenthaltsort der Friedmanns in Wien
Der Unterschied zur Realität: Es geht gut aus. Loja etwa spielt in den Geschichten bewusst mit den Vorurteilen der Bösewichte, stellt sich dumm und kann sich so oft genug in die innersten Zirkel von Gangs einschleichen. Tom Lasker siegt ohnehin immer und verhilft den Opfern punktgenau auf Seite 32 zu ihrem Recht, bestraft die Schuldigen und geht unbeschadet aus Kugelhageln, Schlägereien und Zugsunfällen hervor. Im vorletzten Band überlebt er auch den Versuch, ihn in einer Gaskammer zu töten.
Die harte Arbeit, vergessen zu können
Es sind keine bewundernswert reifen Einsichten wie in Anne Franks Tagebuch, die da zu lesen sind. Es ist vielmehr die harte Arbeit an der Aufgabe, alles um sich herum vergessen zu können. Genaue geografische Schilderungen mit abgemalten Landkarten und exakte Reisebeschreibungen machen spürbar, wie Hans Georg sich tagelang in Fahrpläne, Stadtpläne und Landkarten vertieft haben musste, die ihn weit weg aus der Haidgasse 3/10 brachten.
Am 9. Oktober 1942 wurden Hans Georg, Vater Hugo, Mutter Hildegard und seine kleine Schwester Liselotte aus der Haidgasse in das KZ Theresienstadt weggebracht. Erhaltene Dokumente belegen, wie sich die Familie dort zwei Jahre lang bemühte, einen menschenwürdigen Alltag zu simulieren, bis Mutter und Tochter zur Ermordung nach Auschwitz gebracht wurden und Vater und Sohn nach Dachau, wo sie zugrunde gingen. Beinahe wäre die Erinnerung an sie damit, wie in unzähligen anderen Fällen, ausgelöscht worden.
Ein Koffer blieb zurück
Ein Koffer war in Wien zurückgeblieben. Darin: Erinnerungen, von Hans Georgs handgemalten Muttertagsbillets über verschriftlichte Neckereien unter den Geschwistern („Hans ist sehr shlimm, blöd und ein Trotel“) bis zu ein paar Fotos aus besseren Zeiten. Und „Tom Laskers Abenteuer in aller Welt“. Der Koffer fand zu Marie Mikesch, dem früheren Kindermädchen der Friedmanns. Sie bewachte ihn bis zum Ende der Nazi-Diktatur und fand danach in Hans Georgs Cousin Toni Spielmann einen Überlebenden der Familienlinie.

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„Li ist ein Sauschwein so schaut sie aus“, neckt Hans seine Schwester. Die Taferlklasslerin kontert mit: „Hans ist sehr shlimm, blöd und ein Trotel. so schaut er aus.“
Der hauchdünne Faden aus Zufällen, die die Erinnerung an Hans Georg ins Heute gerettet haben, riss nicht ab: Spielmann ist Mitglied der Schweizerischen Korczak-Gesellschaft zur Förderung der Rechte von Kindern. Vor allem für seine Freunde dort ließ er ein paar Faksimile-Ausgaben der Heftromane drucken. Davon erfuhr wiederum die österreichische Historikerin Heide Manhartsberger-Zuleger, die das Thema ideal für die zeitgeschichtliche Arbeit mit Schulklassen fand, damit aber allein blieb.
Berufsschulklasse wurde zu Friedmanns Stimme
Aus den Heften wurde zwar das Angebot für ein Schülerprojekt, doch keine AHS oder andere Schule, weder aus Wien noch von anderswo interessierte sich dafür, bis Manhartsberger-Zuleger am Rande einer Fachtagung auf die Berufsschullehrerin Klaudia Lassacher traf. Die griff zu. In einem Projekt über zwei Jahre hinweg wurde ihre 2E in der Wiener Embelgasse zur Stimme Friedmanns, etwa in einem sehr gelungenen Radiofeature und eigenen literarischen Reflexionen der Schülerinnen und Schüler.
Ausstellungshinweis
In der VHS Hietzing sind die Arbeiten des Jugendlichen unter dem Titel „Der Tod hat nicht das letzte Wort“ bis 2. Juni zum ersten Mal in der Öffentlichkeit zu sehen und nachzulesen.
Stück für Stück nahm sich die Klasse immer mehr ihres 70 Jahre zuvor getöteten Alterskollegen an, schildert die engagierte Pädagogin gegenüber ORF.at. Aus schweigsamen Mädchen und „harten Burschen“, die anfangs zum Teil mit einem „nicht schon wieder“ auf das Thema Zeitgeschichte reagierten, wurden zusehends engagierte Fürsprecherinnen und Fürsprecher der Erinnerung, bis zum Zusammentreffen mit Spielmann als Höhepunkt und Abschluss des Projekts.
Der „Neue“ und seine Kollegen
Nach insgesamt über einem Jahr Arbeit, die sich Lassacher und ihre 2E von der spärlichen Unterrichtszeit absparten, war das Erbe Hans Georg Friedmanns schließlich so weit aufbereitet, dass es nun für jedermann mundfertig bereitliegt. Als vorläufig erste Institution griff die zeitgeschichtlich schon lange engagierte Volkshochschule Hietzing zu, die der Geschichte der Friedmanns und Tom Laskers nun eine Ausstellung widmet.
Das Wiederaufleben der Erinnerung an Hans Georg Friedmann allen Widrigkeiten zum Trotz hat beinahe etwas von den Happy Ends seiner „Tom Lasker“-Krimis. Weder Lassacher noch die Schülerinnen und Schüler wollen sich selbst dabei aber eine allzu große Rolle zubilligen. Zu sehr haben sie ihn wie einen Klassenkollegen als einen der ihren angenommen, oder wie ein Schüler in selbstverständlich-einsilbiger Anerkennung meint: Ja, der Hans Georg sei „eh cool“.
Lukas Zimmer, ORF.at
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