Es bleibt in der Familie
Sacha Batthyanys abenteuerliche Recherche um die halbe Welt unter psychotherapeutischer Begleitung, Thomas Slupetzkys halbfiktionaler Familienroman und Alexandra Senffts reportagehafte Aufarbeitung der Lebensgeschichte von NS-Nachfahren könnten als Bücher unterschiedlicher nicht sein – gemein ist ihnen die Beschäftigung mit den Nazi-Verbrechen der Großelterngeneration und welche Kraft sie auf die Biografien der Nachfahren ausüben.
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Mit „Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte” (Claassen Verlag) widmete sich die deutsche Islamwissenschaftlerin und Publizistin Alexandra Senfft bereits im Jahr 2007 der Geschichte ihres Großvaters, den sie nie kennengelernt hat. Als Gesandter des Dritten Reiches in der Slowakei hatte Hanns Ludin die Ermordung Zehntausender slowakischer Juden zu verantworten, was kurz nach dem Krieg zu seiner Hinrichtung führte.
Die Familie behalf sich mitunter damit, Ludin als Opfer darzustellen, das im Gegensatz zu so vielen ins Ausland geflüchteten oder anderweitig vor gerichtlicher Verurteilung davongekommenen Tätern als Sündenbock herhalten musste. Senffts Familie zerbrach schließlich unter der Last der Vergangenheit und der Vielzahl in der Verwandtschaft kursierenden Wahrheiten. Die tiefschürfende Annäherung an den Großvater wurde zum vielbeachteten Werk.
Die Kraft des Unausgesprochenen
Anfang Mai erschien nun Senffts zweites Buch zum Thema. „Der lange Schatten der Täter. Nachkommen stellen sich ihrer NS-Familiengeschichte” (Piper) bringt eine breitere Annäherung. Ausgehend von den Erfahrungen mit der Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte widmet sich die Autorin nun den Biografien von Menschen mit einem ähnlichen Familienhintergrund.
Der Nationalsozialismus sei in Hinsicht auf seine strukturelle Ebene ausgiebig dokumentiert, schreibt Senfft – die NS-Zeit im Privaten sei hingegen wenig geklärt. Das Persönliche und Menschliche komme selten vor. Senfft will Wirkweisen aufzeigen und anhand vieler biografischer Beispiele verdeutlichen, welche Kraft das Unausgesprochene, das aktive Schweigen und das Verdrängen auf die Familien hat.
Transgenerationale Übertragungsprozesse, wie sie die Psychologie in Hinsicht auf Traumata jeglicher Art kennt, spielen dabei eine zentrale Rolle. Demnach können die Schrecken der NS-Zeit nicht nur bei unmittelbar Betroffenen mitunter tief und lange sitzen. Denn nicht zu kommunizieren ist eine umso deutlichere Form der Kommunikation, mit der viele Nachfahren lebenslang konfrontiert wurden und werden. Das zeitigt Nachwirkungen, denen sich Betroffene nicht immer bewusst sind und denen sie sich selten entziehen können.
Biografien auf der Spur
Senfft erzählt die Biografien der Menschen, auf die sie zu einem guten Teil durch ihr Buch gestoßen ist, im Stil von Reportagen und spiegelt ihre Eindrücke auf vielen Ebenen wider. So schafft sie einen sehr privaten Zugang zum Thema. Die Autorin besucht etwa den Prozess gegen einen der letzten lebenden Nazi-Täter und zeichnet so die heutige Präsenz der Verbrechen auf doppelter Ebene.
Sie unterstreicht die Suche nach den Folgen der Verbrechen in den Köpfen, indem sie auf ihren Reisen durch Deutschland auch die Vergangenheit dieser Orte in der NS-Zeit thematisiert und mitunter auf bauliche Relikte der Nazis verweist.
Eindrückliche Schilderungen
Damit transportiert Senfft die Gegenwärtigkeit und auch den aktuellen Umgang mit der Thematik, auch wenn sie sich ab und zu in Details verliert. Senfft trifft auf eine pensionierte Geschichtslehrerin, deren Erlebnisse in den letzten Kriegstagen ihr Leben geprägt haben, ebenso wie auf Menschen, die mehr über die Familiengeschichte der Autorin wussten. So entwickelte das Buch eine Eigendynamik.

AP/Matthias Schrader
Autorin Senfft mit ihrem Buch
Die meisten der beschriebenen Personen haben Senffts erstes Buch gelesen und daraufhin den Kontakt gesucht. Sie alle haben ähnliche Erfahrungen gemacht. Da ist es für die Autorin natürlich verlockend, mit Bezügen zur eigenen Biografie anzuknüpfen. Senfft erliegt der Verlockung eine Spur zu oft. Doch ihr gelingt die Beschreibung des Vermischens von Schuld, Mitschuld und Unschuld, was die Taten der Großeltern und Eltern betrifft, sehr eindrücklich und nachvollziehbar.
Ebenso eindrücklich schildert sie die Übertragung der Gefühlswelt auf die Kinder und Enkel durch stetes Verklären, Verleugnen und Verschweigen. Der unausgesprochene Auftrag sei oft, die Familie vor Schande und Strafe zu schützen. Solche Denk- und Gefühlsmuster werfen lange Schatten. Senfft ist dabei um Differenzierung bemüht: „Nicht jedes Hadern mit dem Leben ist auf Krieg und Holocaust zurückzuführen – vieles lässt sich aber mit der NS-Familiengeschichte erklären.“
Familie mit Gegensätzen
Eine vollkommen andere Annäherung an die Großelterngeneration legte Stefan Slupetzky mit „Der letzte große Trost” (Rowohlt) vor. Der Wiener Musiker, Zeichner und Autor, der vor allem für seine „Lemming”-Krimis bekannt ist, hat einen Roman geschrieben, der Slupetzkys Familienhintergrund zum Thema macht – und der zeigt krasse Gegensätze.
Die Familie der Mutter ist jüdischen Ursprungs – die väterliche Seite hat sich in der NS-Zeit eine goldene Nase verdient. Die überzeugten Nazis waren in der Herstellung von Chemikalien tätig - darunter das berüchtigte Zyklon B, das auch in den Konzentrationslagern zur Anwendung kam.
Die Dämonen einer Generation
Slupetzky erzählt in seinem halbfiktionalen Roman die Geschichte von Daniel Kowalski, und nimmt mit der Romanfigur starke Anleihen bei sich selbst. Kowalskis Familiengeschichte vereint Opfer genauso wie Täter. Diese Gegensätze beginnen unweigerlich zu wirken.
Slupetzky geht dabei auf klassische Themen wie die Suche nach der eigenen Identität ein, beschäftigt sich aber auch eingehend mit seiner Generation, die zwar keinen Krieg - sondern ganz im Gegenteil ein über Jahrzehnte prosperierendes Österreich - erlebt hat, dennoch wie jede Generation mit ihren eigenen Dämonen zu kämpfen hat.
„Der letzte große Trost” bildet dabei drei Generationen und deren zwischenmenschliche Dynamik ab, die stark von den Nachwirkungen der Kriegsgeschehnisse geprägt ist. Daniel Kowalski begibt sich auf die Spurensuche nach seinem früh verstorbenen Vater und glaubt, aus den Tagebüchern des Vaters herauslesen zu können, dass an dessen kolportiertem Tod womöglich etwas nicht stimmt. Slupetzky bringt die Geschichte in gewohnt spannender Manier zu Ende.
Massaker im Burgenland
Der Schweizer Journalist Sacha Batthyany benötigt für sein Buch keinen Funken Fiktion, denn die wildesten Geschichten schreibt das Leben. Batthyany, Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“ in Washington, wurde mit seiner blutigen Familiengeschichte vor knapp zehn Jahren aus heiterem Himmel konfrontiert.
Buchhinweise
- Alexandra Senfft: Der lange Schatten der Täter. Nachkommen stellen sich ihrer NS-Familiengeschichte. Piper, 352 Seiten, 22,70 Euro
- Stefan Slupetzky: Der letzte große Trost. Rowohlt, 256 Seiten, 20,60 Euro
- Sacha Batthyany: Und was hat das mit mir zu tun? Ein Verbrechen im März 1945. Die Geschichte meiner Familie. Kiepenheuer & Witsch, 256 Seiten, 20,60 Euro
Damals berichtete die „FAZ“ über das Massaker an jüdischen Zwangsarbeitern im burgenländischen Rechnitz. Kurz vor Kriegsende 1945 kam es während eines Festes auf Schloss Rechnitz, das von Batthyanys Großtante ausgerichtet wurde, zur Hinrichtung von 200 Juden – sie diente zur Belustigung der Gäste, die vorwiegend aus ranghohen SS-Angehörigen bestanden. Von den Taten seiner Verwandten während der NS-Zeit nichts wissend, bekam Batthyany den Artikel im Büro serviert. Die Familie hüllte sich über den Vorfall seit Ende des Krieges in Schweigen.
Die Eigendynamik der Recherche
Batthyany nahm sich des unerwartet aufgetauchten Themas, dem Elfriede Jelinek im Jahr 2010 bereits das Bühnenstück „Rechnitz (Der Würgeengel)“ widmete, an. Batthyany begann seiner Familie Fragen zu stellen. Das Resultat dieses ausschweifenden Prozesses nennt sich „Und was hat das mit mir zu tun?” (Kiepenheuer & Witsch) und zeigt, wie bei Senfft, welche Eigendynamik Recherchen im eigenen Umfeld verursachen.
Mit Hilfe des Tagebuchs der Großmutter förderte Batthyany vollkommen unbekannte Aspekte des Massakers zutage – ein weiteres Tagebuch erlaubt Batthyany, die Erzählungen der Großmutter aus einer anderen Perspektive zu ergänzen. Batthyany reist für die Recherche quer um den Globus, es verschlägt ihn nach Argentinien, wo er eine Auschwitz-Überlebende trifft, ebenso wie nach Sibirien, Ungarn und natürlich ins Burgenland. Gleichzeitig arbeitet Batthyany mit Hilfe eines Psychotherapeuten seine Familiengeschichte auf.
Das Unfassbare fassbar machen
Batthyany ist ein beeindruckendes Buch gelungen, das sich dem komplexen Sachverhalt von vielen Seiten nähert und sich spannend wie ein Krimi liest. Und wie der Titel des Buches verrät, geht es bei all dem auch um Batthyany selbst. Auch er spürt den Wirkweisen nach, die das vor Jahrzehnten Geschehene auf einer emotionalen Ebene bis in die Jetztzeit konservieren.
Wie es sich für ein gutes Buch gehört, wird die Hauptgeschichte mitunter zur Nebengeschichte. Batthyanys Buch weiß zu überraschen. Und er macht damit ein wenig fassbarer, was als unfassbar gilt - in einer Zeit, in der die letzten Zeitzeugen des Holocaust langsam für immer verstummen, ist der Wert eines solchen Buches nicht hoch genug einzuschätzen.
Johannes Luxner, ORF.at
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