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GoPro-Action auf der Leinwand

Höllentrip durch Moskau: Das Regiedebüt von Ilja Naischuller, Frontmann der russischen Indie-Band Biting Elbows, spielt mit Actionkonventionen und geizt nicht mit Gewaltszenen. „Hardcore“ wurde zur Gänze aus der Sicht des Protagonisten Henry gedreht. Neben Kamera-Gimmick und Machogehabe wird ein erster Einblick in das Kino der Virtual-Reality-Generation gewährt.

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Um das Publikum nicht zu sehr zu strapazieren, fängt Naischullers „Hardcore“ gemächlich an: Henry hat keine Erinnerung mehr, als er seine Augen öffnet und Estelle (Haley Bennett) erblickt. Während sie ihm einen kybernetischen Arm montiert, erklärt sie die überschaubare Vorgeschichte: Die zwei seien verheiratet, alles werde bald wieder gut.

Natürlich werden die beiden bald getrennt sein, so will es das Genre. Noch bevor Henrys Stimmprozessor aktiviert werden kann, sind die zwei auf der Flucht. Es ist die erste von vielen Schießereien, durch die sich Protagonist und Publikum (bild-)gewaltig in „Hardcore“ kämpfen müssen. Estelle wird entführt, Henry muss sie - auch das ganz genretypisch - retten und erhält dabei nur von Jimmy (Sharlto Copley) Unterstützung, der noch unverwundbarer als Henry wirkt.

Visuell packendes Erlebnis

Mit viel Muskelkraft und einer Prise trockenem Humor legt „Hardcore“ laufend an Geschwindigkeit zu. Wer sich dem vermeintlichen Liebesglück in den Weg stellt, wird erschossen, erstochen oder enthauptet. Und das Publikum erlebt das hautnah aus Sicht des Protagonisten mit, der russische Filmemacher ließ die Grenzen zwischen Leinwand und Kinosaal bewusst verschwimmen.

Filmplakat von "Hardcore Henry"

Capelight Pictures

Plakat zu „Hardcore“: Der Film legt laufend an Geschwindigkeit zu

Für das perspektivische Experiment setzte Regisseur Naischuller auf GoPro-Kameras, die mit einer eigens für den Film entwickelten Befestigung an Protagonist Henry angebracht wurden. Insgesamt übernahmen 13 verschiedene Schauspieler die Hauptrolle. Die einzelnen Einstellungen gehen nahtlos ineinander über und wirken wie lange, durchgängige Sequenzen. Damit hebt sich „Hardcore“ mit viel handwerklichem Geschick vom bloßen Kameraexperiment ab.

Crowdfunding sicherte Produktion

Ausgangspunkt für Naischullers Projekt war das Musikvideo für einen Song seiner Band Biting Elbows: Der fünfminütige Clip zu „Bad Motherfucker“ zählt mittlerweile 33 Millionen Klicks bei YouTube und erzählt die rasante Geschichte eines namenlosen Protagonisten, der sich seinen Weg in die Freiheit bahnen muss. Wie bei „Hardcore“ wird das Geschehen aus der Sicht des Hauptdarstellers, als Aneinanderreihung von Point-of-View (POV)-Einstellungen, gezeigt.

Mit Hilfe der Crowdfunding-Plattform Indiegogo finanzierte der russische Indierocker und Regieneuling sein Projekt in Spielfilmlänge - auch wenn Naischuller anfangs nicht restlos von der Idee überzeugt war. Die Idee sei kaum mehr als ein Gimmick und würde auf der Leinwand nicht funktionieren, so seine anfänglichen Bedenken. Erst auf Bestreben des Regisseurs Timur Bekmambetow (Fantasyreihe „Wächter der Nacht“) gab er dem Projekt eine zweite Chance.

Einsam in der Filmgeschichte

Das Resultat ist einer der wenigen POV-Features der Filmgeschichte: Nur der 1947 erschienene Film Noir „Die Dame im See“ („Lady in the Lake“) setzte ebenfalls auf die ungewohnte Perspektive - und überforderte damit das Publikum. Die vom Studio erwünschte Revolution im Filmgeschäft blieb aus, „Die Dame im See“ wurde von Kritikern verrissen - zu schnell würde sich der Reiz der neuen Sichtweise abnutzen, lautete damals das Urteil.

Diesen Vorwurf musste sich auch Naischuller gefallen lassen. „Hardcore“ feierte vergangenen September bei einem Filmfestival in Toronto Premiere, Begeisterung war medial nur selten zu vernehmen. Auf dem Bewertungsportal Rotten Tomatoes hält der russische Actionfilm momentan bei 51 Prozent. Einige Kritiker bemängeln, dass der Film genau so spannend sei, wie bei einem Computerspiel zuzusehen.

Zwischen Egoshooter und Dashcam

Solche Wertungen lassen aber außer Acht, dass sich Let’s-Play-Videos, die das Geschehen aktueller und klassischer Spiele auf Plattformen wie YouTube abrufbar machen, großer Beliebtheit erfreuen. Selbst für versierte Spieler üben diese offensichtlich einen größeren Reiz aus, als ihnen von kritischen Stimmen zugestanden wird.

Dass Computerspiele und Filme ihre Wege kreuzen, ist längst nicht mehr ungewöhnlich. Egal ob Spieleverfilmungen oder Filmverspielungen - die Unterhaltungsbranche sieht das kommerzielle Potenzial hinter derartigen Umwandlungen, meist ohne Rücksicht auf die Frage nach der Eignung. Dass sich ein Film aber auf ein formales Detail statt auf inhaltliche Übereinstimmung konzentriert - wie in „Hardcore“ mit der Egoperspektive, die in Shooter-Spielen zum Einsatz kommt - bildet eine Ausnahme.

Die Wurzeln der Bildsprache von „Hardcore“ sind nicht ausschließlich im Bereich der Computerspiele zu suchen. Gerade in Russland ist die Dashcam - eine Kamera, die an der Scheibe eines Fahrzeugs angebracht wird und damit den Blickwinkel des Fahrers einfängt - ein weit verbreitetes Werkzeug, um sich als Lenker rechtlich abzusichern. Immer wieder finden Videos von Unfällen ihren Weg auf Streamingplattformen.

Ausblick in die Zukunft?

Naischuller stellte mit seinem Debüt keinen inhaltlichen Meilenstein auf oder revolutionierte das Genre für immer. Im Gegenteil - im Kern erinnert die Geschichte an Klassiker aus den 80er Jahren, ganz nach dem Motto: Mit Muskelkraft lässt sich jedes Problem lösen. Damit orientiert sich der russische Regisseur gleichermaßen an Actionspielen, die häufig inhaltliche Tiefe vermissen lassen.

Formal ist „Hardcore“ ein Ausblick auf eine mögliche Zukunft, in der die Gruppenerfahrung des Kinos dem Einzelerlebnis mit dem Virtual-Reality-Helm weichen könnte. Letztendlich ist Protagonist Henry auf einer Ebene mit dem Publikum, die vierte Wand dadurch verschwommen. Dass das trotz inhaltlicher Schwächen ein packendes Erlebnis sein kann, zeigt Naischuller mit seinem handwerklich einwandfreien „Hardcore“ jedenfalls.

Florian Bock, ORF.at

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