In den Müll statt in den Magen
Dass Brot, Joghurt, Obst und Gemüse allzu oft im Müll statt im Magen landen, ist wohl in den meisten Haushalten Routine. Manches verdirbt, weil man schlicht zu viel eingekauft hat. Aber vieles landet bloß deshalb im Müll, weil das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist. Das Ausmaß der Lebensmittelverschwendung ruft mittlerweile die Politik auf den Plan.
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Rund ein Drittel aller Lebensmittel werden weltweit laut einer Studie der Welternährungsorganisation (Food and Agriculture Organization of the United Nations, FAO) weggeworfen - das entspricht ungefähr 1,3 Mrd. Tonnen. In den 28 EU-Staaten werden jährlich rund 88 Mio. Tonnen Lebensmittelabfälle im geschätzten Wert von etwa 143 Mrd. Euro produziert. 2011 wurden 865 Kilo Lebensmittel pro Person hergestellt, rund 20 Prozent davon - 173 Kilo pro Person in der EU - landeten im Müll.
Datenlücken als Problem
Den größten Anteil verursachen die privaten Haushalte (47 Mio. Tonnen) - zusammen mit der Gastronomie und dem Handel erzeugen sie EU-weit 70 Prozent der Abfälle. Das EU-Projekt „Fusions“ zur Vermeidung von Lebensmittelabfällen, bei dem das Institut für Abfallwirtschaft der Universität für Bodenkultur (BOKU) Wien Partner ist, veröffentlichte die aktualisierte Schätzung Anfang April. Die Forschungsarbeit zeige allerdings, dass eine umfassende Bewertung aufgrund großer Datenlücken nicht möglich sei, hieß es in einer Aussendung.

ORF.at/Birgit Hajek
Nicht alles, was im Müll landet, ist ungenießbar
Auch für Österreich gibt es keine flächendeckende, umfassende Datenlage. Ein neuer Bericht des Österreichischen Ökologie-Instituts beziffert die jährlich anfallende Lebensmittelabfallmenge „als ersten Richtwert“ mit 760.000 Tonnen. Davon gilt die Hälfte als potenziell vermeidbar, wie es in einem von der Umweltstiftung WWF und der Initiative MUTTER ERDE herausgegebenen Lagebericht heißt. Landwirtschaft, Produktion und Großhandel sowie bestimmte Entsorgungswege im Haushalt sind von den 760.000 Tonnen allerdings ausgenommen. Die genannten Bereiche konnten aufgrund fehlender Daten nicht berechnet werden.
Initiative zu Umweltschutzthemen
Seit 2014 widmet sich die Initiative MUTTER ERDE jährlich einem konkreten Umweltschutzthema. 2014 stand das Thema „Wasser“ im Mittelpunkt, 2015 drehte sich alles um die Bienen und 2016 geht es um Lebensmittelverschwendung. Die Initiative wird vom ORF und den führenden Umwelt- und Naturschutz-NGOs getragen.
Originalverpackt oder angebrochen
„Man kann also davon ausgehen, dass noch beträchtliche Mengen hinzukommen“, so Christian Pladerer vom Österreichischen Ökologie-Institut. Hinweise aus anderen Ländern ließen auf eine nicht vernachlässigbare Lebensmittelabfallmenge in diesen Bereichen schließen. Für die Produktion ist eine Studie in Arbeit, für den Bereich Landwirtschaft sind derzeit keine Datenerhebungen geplant.
Alleine im Restmüll finden sich laut Bericht 157.000 Tonnen vermeidbare Lebensmittelreste – davon ein guter Teil an originalverpackten und nur teilweise verbrauchten Lebensmitteln. Die Studienautoren orten großen Handlungsbedarf. Durch die vermeidbaren Lebensmittelabfälle könnten österreichweit insgesamt ca. 380 Mio. Euro pro Jahr eingespart werden.
Transparente Daten und verbindliche Maßnahmen
Aber wie? Die Vereinten Nationen (UNO) fordern eine Halbierung der Lebensmittelabfälle bis 2030. Brüssel will die EU-Staaten dazu verpflichten, die Zahl der Lebensmittelabfälle bis 2025 um 30 Prozent zu verringern. Um diese Ziele zu erreichen, wäre zunächst eine fundierte Datenlage Voraussetzung. „Wir brauchen transparente Daten und verbindliche Maßnahmen“, forderte Friederike Klein von WWF Österreich.
In der EU ließen zuletzt Gesetzesinitiativen aufhorchen: In Frankreich müssen Händler nach einem Anfang Februar beschlossenen Gesetz unverkaufte Nahrungsmittel spenden, verarbeiten, als Tierfutter verwenden oder kompostieren. Auch in Italien sollen laut einem jüngst im Abgeordnetenhaus beschlossenen Gesetz Landwirte, Industrie und Handel, aber vor allem auch Privathaushalte Lebensmittel künftig nicht mehr wegwerfen oder vernichten, sondern an Bedürftige weitergeben. Die deutsche Bundesregierung plant indes kein Wegwerfverbot, wie das Ernährungsministerium bereits mitteilte.
Regierungsparteien verweisen auf Projekte
In Österreich sind sich Politiker weitgehend einig, dass Gesetzesinitiativen zu kurz greifen bzw. hierzulande unnötig sind. Die Regierungsparteien verwiesen auf ORF.at-Anfrage vielmehr auf bereits existierende Initiativen und Projekte. Die Reduktion von Lebensmittelabfällen sei im Regierungsprogramm enthalten, so die SPÖ. Eine gesetzliche Regelung wie etwa in Frankreich sei nicht vorgesehen, zumal die Ausgangslage hierzulande eine andere sei. Hier herrsche „Einigkeit in allen Ministerien, vor allem auch bei den NGOs und in der Wirtschaft“.
Da der Großteil der Lebensmittelabfälle in privaten Haushalten anfalle, könne mit Gesetzen wenig bewirkt werden, hieß es aus der ÖVP-Parteizentrale. Bewusstseinsbildung sei hingegen wichtig. Maßnahmen, wie sie in Frankreich und Italien beschlossen bzw. geplant sind, existierten zudem in Österreich ohnehin längst – „etwa die freiwillige Weitergabe von nicht verkauften Lebensmitteln an soziale Einrichtungen“. In Österreich gebe es außerdem im Gegensatz zu Frankreich bereits seit 2004 ein Deponierungsverbot für organische Abfälle, demzufolge Lebensmittel biologisch verwertet werden müssen.
NGOs fordern verbindlichen Umsetzungsplan
Ähnlich der Tenor im Umweltministerium: Handel und Verarbeitungsbetriebe würden derzeit pro Jahr auf freiwilliger Basis rund 11.000 Tonnen Lebensmittel an soziale Einrichtungen weitergeben. Der zentrale Ansatz ist auch hier die Bewusstseinsbildung. „Jeder Einzelne, ob Konsument, Handel oder Produzent, hat Verantwortung im Umgang mit den Lebensmitteln. Wenn jeder weniger Essen wegwirft, kann es zu einer großen Reduktion führen“, hieß es aus dem Umweltministerium gegenüber ORF.at.

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Einfache Maßnahmen gegen Verschwendung: Lebensmittel gezielt einkaufen, richtig lagern, kreativ verwerten - und das zu große Schnitzel im Lokal einpacken lassen und mit nach Hause nehmen
Für Greenpeace reichen die genannten Regierungsmaßnahmen allerdings nicht aus. Die Umweltschutzorganisation fordert daher bessere gesetzliche Rahmenbedingungen, um Essen vor dem Mist zu retten, sowie konkret einen verbindlichen landesweiten Umsetzungsplan.
Haltbarkeitsdatum vor Aufweichung?
Gerade das auf zahlreichen Lebensmitteln verzeichnete Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) sorgt für Verunsicherung, da es von vielen für das Verfallsdatum gehalten wird. In Deutschland wird über die generelle Abschaffung derzeit rege diskutiert, nachdem sich der deutsche Ernährungs- und Landwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) für eine baldige Abschaffung auf allen Lebensmittelverpackungen starkgemacht und eine baldige EU-Neuregelung in Aussicht gestellt hatte.
ÖVP und SPÖ bestätigten gegenüber ORF.at., dass das Thema auf EU-Beamtenebene in einer Arbeitsgruppe diskutiert werde. Eine Option sei die Erweiterung der Ausnahmeliste von Lebensmitteln, die kein Mindesthaltbarkeitsdatum benötigen, hieß es bei der SPÖ. Im Gespräch seien z. B. Tee, Kaffee, Reis und Pasta. Darüber hinaus benötigen Lebensmittel wie frisches Obst und Gemüse (nicht geschält, geschnitten), Backwaren, Essig, Speisesalz, Zucker in fester Form und Kaugummi keine MHD-Angaben.
Grüne: Vermeidung statt Weiterverwertung
Aus Sicht der Grünen ist ein öffentlicher Diskurs zum Thema Lebensmittelmüllvermeidung „dringend notwendig“. „Die oberste Priorität sollte die Vermeidung von Lebensmittelabfällen haben und nicht ihre Weiterverwertung“, sagte Jens Karg, Referent für Landwirtschaft, Lebensmittelsicherheit und Tierschutz im grünen Parlamentsklub, gegenüber ORF.at. Karg verwies auch auf einen entsprechenden parlamentarischen Antrag aus dem letzten Sommer, der unter anderem eine verbesserte Datenlage fordert.
Ob legislative Maßnahmen wie in Frankreich und Italien der richtige Weg sind, sei erst zu prüfen. Bei einer gesetzlich vorgeschriebenen Verpflichtung zur Abgabe an karitative Einrichtungen bestehe die Gefahr einer „Verschiebung der Verluste von einer zur anderen Stufe der Wertschöpfungskette“, so Karg weiter.
FPÖ sieht keinen Änderungsbedarf
Aus der FPÖ nahm der wahlkämpfende Bundespräsidentschaftskandidat Norbert Hofer zur ORF.at-Anfrage Stellung. Bei dem ehemaligen Umweltsprecher handelt es sich laut Pressesprecher um den derzeit ausgewiesensten Umweltexperten der Partei. Er erkenne in einem Wegwerfverbot von Lebensmitteln nicht den gewünschten Erfolg, so Hofer. Auch an den geltenden Bestimmungen zum Haltbarkeitsdatum solle nichts geändert werden. Die eingebauten Sicherheitspuffer seien notwendig. Vielmehr solle bereits in der Volksschule ein Bewusstsein darüber geschaffen werden, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, mit Nahrung und Wasser in ausreichendem Maß versorgt zu sein.
NEOS setzt auf die Mündigkeit der Konsumentinnen und Konsumenten. Regelungen seien in Österreich bereits „sehr gut ausformuliert“. Vor allem im privaten Bereich, wo der größte Teil der Lebensmittelverschwendung passiere, lasse sich nicht mit Verboten, sondern nur mit Bewusstseinsbildung arbeiten, so NEOS-Umweltsprecher Michael Pock auf ORF.at-Anfrage.
Das Team Stronach (TS) sieht indes Änderungsbedarf. Als Maßnahmen gegen die Wegwerfkultur bei Lebensmitteln nennt TS-Sozialsprecherin Waltraud Dietrich die Einführung des Fachs Hauswirtschaftslehre im Unterricht, ein Wegwerfverbot im Handel und die Wiedereinführung der Verwertung über Tierfutter. Die Liste der Lebensmittel ohne Mindesthaltbarkeitsdatum gehöre erweitert.
Doris Manola, ORF.at
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