Versunken in Panama
Die Panama-Papers sind eines der umfangreichsten Informationslecks der Geschichte. Aus der mehrmonatigen Arbeit mit der dazugehörigen Datenbank lassen sich sieben wertvolle Lektionen ableiten.
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Wenn man 1986 auf dem Schulhof die richtigen Connections hatte, konnte man an wirklich guten Stoff kommen: Spiele für den C64, liebevoll auf Floppys oder C60-Audiokassetten aus dem Hause BASF handkopiert - reiner Brain Candy, ein Zuckertrash fürs Kleinhirn. Die Games kamen stets mit kunstvollen Vorspannanimationen der Cracker-Crews daher, die das Spiel geknackt hatten, naturgemäß ohne gedruckte Anleitung.
Das gecrackte Game lag somit vor dem Spieler wie ein Artefakt einer fremden Kultur. Man musste sich ohne fremde Hilfe in die Funktionsweise des Systems hineinfinden. Bei den meisten Games war das einfach. Es gab aber auch schon damals sehr komplexe Spiele, Rätsel mit eigener Logik, in die es sich mit maximaler Hartnäckigkeit zu vertiefen galt.
Spielen und scheitern
Das Internet, in dem man die Lösungen nachsehen hätte können, stand Privatleuten noch nicht zur Verfügung. Also musste man spielen und scheitern und spielen und scheitern – und schließlich irgendwann verstehen. Eine Erfahrung, die prägt.
Wenn man 2016 die richtigen „falschen“ Connections hat, sitzt man irgendwann vor einem anderen Stück Software, das ein Freund von einem Freund des besten Freundes bekommen hat: den Panama-Papers, Inhalte von Datenbanken aus der Offshore-Finanzbranche. Im 21. Jahrhundert muss nun Bertolt Brechts Bonmot modifiziert werden: Wer ein zeitgemäßes Verbrechen begehen will, der sollte weder eine Bank überfallen noch eine Bank gründen – es genügt, eine Datenbank aufzusetzen.
Abstürzende Banken
Aber mit der Sicherheit von Banken ist das so eine Sache. Sie scheitern, stürzen ab, verschwinden, tauchen plötzlich wieder auf - und geraten schließlich ins Blickfeld des Rechercheurs. Dieses reduziert sich aber schnell auf die Abfragemaske, in die man Suchbegriffe eingibt. Denn bis auf Personen, die man halt so kennt aus den eng verflochtenen Rubriken Wirtschaft und Polizeibericht, findet man: Nichts.
Und damit lernt man gleich die erste Lektion: Die echten Profis stehen nicht in Datenbanken. Dafür haben sie ihre Leute - Anwälte, Banker, Treuhänder, eine ganze Offshore-Industrie. Die Panama-Papers-Daten sind Fossilien, Reste jener Strukturen, die wirklich reiche Zeitgenossen aufbauen, um anonym schalten und walten zu können. Die Inhalte, die Namen der Firmen, sind unwichtig, die Dokumente standardisiert, bedeutungslos, man kann die Texte der E-Mails schon bald auswendig.
Einfache Spiele
Komplexe Spiele wie Schach und Go haben einfache Regeln. Das Offshore-Game hat einen Satz oberflächlich sehr komplexer Regeln, ist aber im Grunde simpel. Dem ersten Eindruck nach müsste die Finanzbranche daher ein heißer Kandidat für totale Automatisierung sein. Der Datenverkehr hat etwas Roboterhaftes an sich. Die Treuhänder gründen mit immer denselben Textbausteinen leere Gesellschaften, es tauchen immer dieselben Sekretäre und Tarnfirmen in den Registrierungspapieren auf - damit an ihrer Stelle nicht der Name des Ultimate Beneficial Owners, des „wirtschaftlich Begünstigten“ und eigentlichen Eigentümers, stehen muss.
Relevanz der Links
Man möchte spontan einen Lehrstuhl für Briefkastenfirmensemiotik ins Leben rufen – und ihn sofort wieder abschaffen. Denn Lektion Nummer zwei: In der Panama-Papers-Datenbank geht es nicht um Inhalte, es geht um Verbindungen und Muster. Das Offshore-Unwesen ist erst im Netzwerkzeitalter so richtig zu sich gekommen. Eine Datenbank ist dem Zettelkasten deshalb überlegen, weil man in ihr leichter Verknüpfungen finden kann. Google ist so groß und stark geworden, weil es - anders als einfache Webkataloge wie das frühe Yahoo - das Augenmerk weniger auf die Inhalte der Dokumente im Netz legte als auf die Relevanz der Links, also auf die Verbindungen zwischen den Dateien.
Datenbank-Archäologie
In den Panama-Papers gibt es aber keine Links. Jede Datei steht für sich. Die automatische Auswertung ist fehlerhaft, man arbeitet sich tagelang durch Unmengen mangelhaft konvertierter PDFs aus den 1990er Jahren. Die Arbeit mit der Datenbank fühlt sich an, als würde man mit Zahnbürste und Pinsel ein Dinosaurierskelett freilegen. Sie ist nur bedeutend langweiliger. Und man weiß, dass man selbst am Ende nicht genau sagen wird können, wie das Tier ursprünglich ausgesehen hat.
Was mögen das für Organismen gewesen sein, die 8.600 Euro für einen Flug im Leihjet von Innsbruck nach Berlin ausgeben? Oder die Anteile an einem russischen Gasfeld im Wert von einer Viertelmilliarde US-Dollar von einer Pseudofirma auf den Jungferninseln zu einer auf Zypern verschieben? Man fertigt Skizzen an, Notizen, sieht irgendwann die Netzwerke wachsen, sich konsolidieren.
Die Spuren der Anderen
Die wichtigsten Verknüpfungspunkte sind Namen und Adressen. Und schon ist man bei Lektion Nummer drei: In der Offshore-Szene gibt es keinen Mangel an Fantasiefirmen und Geld, aber gutes Personal ist schwer zu bekommen. Die Vertrauensleute sind deshalb immer dieselben, sie hinterlassen Spuren, müssen ihre Pässe und Adressen übermitteln.
Ein einzelner Brite in einer endlosen Liste griechisch-zypriotischer Namen? Notiert. Der Mann arbeitet in derselben Anwaltskanzlei wie ein anderer britischer Direktor aus derselben Tarnfirmenserie? Notiert. Lektion Nummer vier: Adressen, Namen und Zeitstempel, die sogenannten Metadaten, sind bei der Recherche wesentlich nützlicher als der Großteil der Inhalte der Dokumente.
Lob der Störungen
Die Netzwerkskizzen weiten sich aus, entwickeln sich zu einer Struktur - der vielleicht sogar eine Arbeitshypothese entwächst, irgendwann beständig genug, um bestimmte Zufälle ausschließen zu können. Lektion Nummer fünf: Die Offshore-Recherche ist angewandte Kybernetik, radikaler Rekonstruktivismus. Die meisten Hypothesen fallen relativ schnell in sich zusammen. Andere bleiben merkwürdigerweise stabil stehen, auch wenn sie das eigentlich nicht dürften – bis man zufällig das fehlende Teil findet.
Ganz nutzlos sind auch die löchrigen Geldwäschegesetze der Britischen Jungferninseln nicht - die Anforderungen von Behörden und den Compliance-Abteilungen der Kanzleien sowie Banken sorgen für Störungen in den perfekt austarierten Strukturen. Und jede Störung erhöht die Chance auf einen Fehler. Die Satzbausteine der Treuhänder, mit denen Firmen gegründet und wieder aufgelöst werden, funktionieren wie Programmcodes. Sie müssen auf den Buchstaben genau stimmen und zum genau richtigen Zeitpunkt abgesetzt werden, um den Gesetzen zu entsprechen und unauffällig zu bleiben.
Offene Regierungsdaten
Die Offshore-Profis sind wie die Cracker vom Schulhof, sie suchen und finden Lücken in den Steuergesetzen, die die Politik nicht kennt oder nicht schließen will. Aber die Gesellschaft kann sie behindern: Mit harten Vorschriften zur Identifikation von Akteuren und Wertpapieren und – vor allem – mit Transparenz durch offene Regierungsdaten.
Lektion Nummer sechs: Eine Datenbank ist nichts ohne eine andere Datenbank. Ein einzelnes Datum für sich genommen ist nichts, dasselbe Datum in zwei verschiedenen Datenbanken geht dagegen schon beinahe als ein Stückchen Realität durch. Je mehr Daten in voneinander unabhängigen Systemen zur Verfügung stehen, desto besser. Es stellt sich heraus, dass offene Zeitungsarchive und offene Regierungsdaten die besten Helfer bei der Suche nach fragwürdigen Geschäften sind.
Mehrfache Prüfungen
Der Name einer Gesellschaft aus Panama-Papers taucht plötzlich im offenen Grundbuch von New York auf? Treffer. Jemand schreibt am 12. Februar eine E-Mail aus Panama? Alle Informationen in der Datei können gefälscht sein. Man findet einen verlässlichen Medienbericht darüber, dass sich der Absender zu der Zeit in Panama aufgehalten hat? Schon wieder ein möglicher Fehler ausgeschlossen.
Über mehrfache Gegenchecks stabilisiert sich die Rekonstruktion der Businessfossilien. So ist wohl auch die NSA zu heutiger Größe angewachsen, ein Symbol der Gier des Schattenhaften nach Lebendigkeit. Zwei Datenbanken sind besser als eine, vier Datenbanken sind besser als zwei, acht sind besser als vier, 16 besser als acht - aber bedeutend schlechter als 32. Man fängt mit einer Excel-Tabelle auf einem kleinen Arbeitsgruppenserver an und findet sich schon bald darauf im Gang einer Mega-Serverfarm in Utah wieder, umgeben von Bugs aller Art – eine durch und durch zeitgenössische Verwandlung.
Big Data
Im Kontext der Journalismusgeschichte könnte man Panama-Papers fast schon als den ersten großen Big-Data-Anwendungsfall bezeichnen, der ohne Softwareunterstützung überhaupt nicht zu bewältigen wäre. Aber man stößt bei ernsthafter Recherche unglaublich schnell an die Grenzen der Datenbank, man braucht mehr, immer mehr. Für NSA-Projektmanager in Fort Meade lässt sich das schnell regeln. Aber auch das ist nicht genug, jede Informationslücke wird zum Problem, das beseitigt werden muss.
Während das Bedürfnis nach immer mehr Daten befriedigt wird, verändert sich unwillkürlich die Perspektive auf das Material. Man läuft Gefahr, die schiere Masse mit Überblick zu verwechseln, der Rechercheur nimmt die Bossperspektive ein. Namen werden auf ihre Eigenschaft als Daten reduziert und haben nur noch dann eine Bedeutung, wenn sie sich in eine brauchbare Struktur einfügen.
Die Grenzen der Automatisierung
Deshalb lautet Lektion Nummer sieben: Alle Datenbanken zusammen sind immer noch nicht genug. Spuren und Indizien müssen nach wie vor auf traditionelle Weise verifiziert werden, nämlich indem ein Journalist die richtigen Fragen an die richtigen Menschen stellt. Die Datenbankrecherche grenzt die Zahl der sinnvollen Fragen nur ein, spart also in der Endphase möglicherweise Zeit. Die Automatisierung hat Grenzen.
Mag sein, dass Datenbanken für sich allein betrachtet die zeitgenössische Form der selbst verschuldeten Unmündigkeit darstellen. Dieser entkommt man bekanntlich nur durch harte Arbeit, methodisches Fragen. So verlässt man endlich das Ambiente des Schulhofs, durchbricht die Logik des Spiels ohne Anleitung, bekommt eine Chance darauf, eine Antwort zu erhalten.
Günter Hack, ORF.at