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„Nicht einmal richtige Muslime“

Nach den Attentaten in Paris im November ist ein Viertel Brüssels in die weltweiten Schlagzeilen geraten: Molenbeek. Nur wenige hundert Meter entfernt vom Brüsseler EU-Viertel lebten einige der involvierten Täter und Verdächtigen. Bis heute kommt es dort immer wieder zu Razzien und Festnahmen im Zusammenhang mit den Ermittlungen zu den Bataclan-Anschlägen.

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Für die Bewohner ist das nichts Neues, denn bereits nach den Anschlägen im Jänner 2015 auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ in Paris, den jüdischen Supermarkt und später auf den Thalys-Zug war Belgien ein zentraler Schauplatz bei der Suche nach den Attentätern.

Weniger gentrifiziert

Dabei ist die EU-Hauptstadt gerade im Zentrum viel weniger gentrifiziert als viele andere europäische Städte. Auf den Straßen Molenbeeks sieht man ganz überwiegend Belgier und Migranten nordafrikanischer oder nahöstlicher Herkunft. Das Leben spielt sich stark auf der Straße ab. Doch auch das ist grundsätzlich nichts Ungewöhnliches in dieser Stadt, die trotz ihrer lediglich 1,2 Millionen Einwohner viel bunter ist als etwa Wien. Historisch ist das ein Erbe der kolonialen Vergangenheit.

Kanal in Brüssel

ORF.at/Guido Tiefenthaler

Ein schmaler Kanal trennt Molenbeek (links im Bild) vom Zentrum

In dem arabischen Viertel herrscht eine Arbeitslosigkeit von mehr als 30 Prozent. Viele Straßenzüge sind heruntergekommen, die Preise entsprechend günstig - ein wichtiges Argument für Zuwanderer, sich hier niederzulassen. Doch ein Geschäftsbesitzer, der seit 50 Jahren hier lebt, betont gegenüber der Website Politico, dass das Leben in Molenbeek bis vor wenigen Jahren ganz normal gewesen sei. Natürlich habe es kleinere Verbrechen gegeben. Wirklich verändert habe sich das Leben aber, als die Islamisten gekommen seien, „die nicht einmal richtige Muslime sind“.

„Polizei hat wenig zu sagen“

Der belgische Premier Charles Michel räumte nach den Pariser Attentaten ein, dass die Regierung ein Problem hat. Edwin Bakker vom Zentrum für Terrorismusbekämpfung der Universität Leiden betonte, in Teilen Brüssels habe die Polizei „wenig zu sagen“. Das seien sehr abgegrenzte Gegenden, „deren Bewohner sich nicht als Teil des belgischen Staates fühlen“ und wo die Polizei de facto nicht hingeht.

Karte vom EU-Viertel und Molenbeek in Brüssel

Grafik: Omniscale/OSM/ORF.at

So wie Bakker gibt auch der belgische Innenminister Jan Jambon der föderalen Struktur des Landes, und insbesondere Brüssels, eine Mitschuld. Die Stadt ist in 19 großteils selbständige Gemeinden aufgeteilt - und in sechs Polizeizonen. In der Elf-Millionen-Metropole New York gebe es dagegen nur eine Polizeizone, so Jambon. Die vielen, teils konkurrierenden, Verwaltungseinheiten behindern den Informationsfluss.

Gefahr unterschätzt

„Wir haben es wahrscheinlich mit einem Netzwerk zu tun“, betonte die Mitte-rechts-Bürgermeisterin Francoise Schepmans der Gemeinde Molenbeek-Saint-Jean. Tatsächlich gilt Belgien seit Jahren fast als europäischer Hub für Islamisten und Dschihadisten. Aus keinem anderen europäischen Land gingen - anteilig an der Bevölkerung betrachtet - so viele junge Muslime nach Syrien. Auch wenn nicht klar ist, ob sie alle in den Dschihad zogen - auch humanitäre Motive gibt es -, viele von ihnen gehen hin, um in den Krieg zu ziehen. Und auch die Szene in Belgien hat sich laut Einschätzung von Experten in den letzten Jahren rasant radikalisiert und an Zulauf gewonnen.

Zentral dafür ist laut dem Journalisten Guy Van Vlierden von der belgischen Zeitung „Het Laatste Nieuws“ die Organisation Sharia4Belgium. Diese sei 2010 als Ableger der radikalen britischen Bewegungen Islam4UK und Al-Muhajiroun, die von Omar Barki und Anjem Choudari geleitet werden, gegründet worden. In den ersten Jahren war die Gruppe, die keinerlei Beziehung zu anderen radikalen belgischen Organisationen gehabt habe, von der Polizei nicht als Gefahr eingestuft worden. Sie hätten großteils missioniert.

Stadtteil "Molenbeek" in Brüssel

APA/AFP/Emmanuel Dunand

Ein Straßenzug in Molenbeek. Große Teile des Stadtteils bestehen aber aus niedrigen, heruntergekommenen Wohnhäusern und engen Gassen.

Schnelle Rekrutierung

Weil sie von den Behörden nicht ernst genommen worden seien, sei es ihnen leicht gefallen, viele junge Leute zu rekrutieren, so Van Vlierden in einem Artikel für den US-Thinktank Jamestown. Maßnahmen, wie etwa das Kopftuchverbot in Antwerpen, hätten die Anhänger in ihrer Überzeugung, dass Muslimen nicht genügend Rechte gewährt würden, bestärkt.

Als die Behörden 2012 schließlich begannen, gegen Sharia4Belgium vorzugehen und deren Gründer Fouad Belkacem verhafteten, war es laut Van Vlierden zu spät: Denn der syrische Bürgerkrieg war mittlerweile zum Ausstiegsziel für Radikale geworden. „Die Jungen hatten die Botschaft der Gruppe, dass die belgische Gesellschaft sie nicht will und keinen Platz für den Islam bietet, verinnerlicht, und sie sahen den Dschihad in Syrien als einen guten Ausweg.“

„Immer Verbindung nach Molenbeek“

Auch der belgische Premier Michel räumte ein, dass sein Land Probleme im Kampf gegen islamistischen Terror habe: „Ich stelle fest, dass es fast immer eine Verbindung nach Molenbeek gibt.“ Belgien erleichtere durch seine geografische Lage und seine guten Verkehrsverbindungen in Nachbarländer „die Bewegung von Menschen mit feindlichen Absichten“.

Dass Belgien von schweren Terrorattacken - wenn man vom Anschlag auf die Synagoge in Brüssel im Vorjahr absieht - bisher verschont wurde, könnte auch damit zu tun haben, dass sich die Dschihadisten ihre Rückzugsbasis nicht selbst ruinieren wollen. Innenminister Jambon kündigte an, in Molenbeek „aufzuräumen“.

Was Molenbeek fehlt

Molenbeek-Gemeinderat Ahmed El-Khannouss von der Mitte-links-Partei cdH betont im Interview die schwierige soziale und wirtschaftliche Lage der Gemeinde. Diese sei arm und habe viel zu wenige Finanzmittel, um die nötigen Maßnahmen in Wohnbau, Bildung und Integration aufzubringen. Die Moscheen in Molenbeek seien nicht radikalisiert, betont El-Khannouss.

Die Gemeinde könne gegen Islamisten selbst aber auch gar nicht vorgehen, dafür sei die Polizei zuständig. Ein Problem sei die hohe Schulabbrecherrate in Molenbeek. Selbst wenn die föderale Regierung Molenbeek nun mit Sozialmitteln kräftig unter die Arme greifen sollte, bleibt aber das Problem: Bis solche Maßnahmen greifen, vergehen Jahre.

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