Irritiert und polarisiert
Dutzende Mails an die Redaktion, mehr als 2.000 Beiträge in debatte.ORF.at und kontroverse Meinungen und Diskussionen in Sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter: Die Entscheidung von ORF.at, am Frauentag Artikel so zu formulieren, dass in Bezeichnungen Männer „mitgemeint“ sind und nicht wie sonst Frauen, hat einigen Staub aufgewirbelt.
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Die Berichte wurden „feminisiert“, also Mehrzahlwörter, die Frauen einschließen, und unbestimmte Singularformen („Wer wird nächste US-Präsidentin?“) rein weiblich gebildet. Ziel war es, zumindest für einen Tag Frauen in der Sprache sichtbarer zu machen, mit ungewohnten Formulierungen zu irritieren und auszuprobieren, ob beim Schreiben und Lesen andere Bilder im Kopf entstehen, wenn eben das generische Femininum verwendet wird.
„Mutig“, „erfrischend“, „befreiend“
Rund die Hälfte der Mails an die Redaktion enthielt Lob für die Aktion. Von einem „mutigen Schritt“ und einer „erfrischenden“ und „kreativen“ Idee war die Rede. Die Lesbarkeit leide „viel weniger als bei klassischem Gendern“, hieß es in einer Mail. „Es war außerordentlich interessant, sich selbst zu ertappen, wie irritierend das ‚Männer-Mitmeinen‘ bei konkreten Meldungen war!“, in einer anderen. „Die Bilder im Kopf werden ganz andere“, schrieb eine Leserin. Mehrmals wurde der Wunsch geäußert, diese Sprachform nicht nur für einen Tag zu verwenden. Auffallend: Lob, Gratulation und Dankesbekundungen kamen von Frauen und Männern.
Auch heftige Kritik
Umgekehrt war auch die Kritik an dem Experiment keine Männerbastion. Frauen wiesen häufig darauf hin, dass aus ihrer Sicht Sprache nichts an Ungleichheiten ändern könne und andere Probleme viel drängender seien - ein Argument, auf das die Redaktion auch im erklärenden Hinweis am Frauentag eingegangen ist. Mitunter fiel die Kritik aber heftig aus. Übliche Verballhornungen spielten auf Zwangsfeminisierung an („Als hätte diese Landin keine anderen Sorginnen!“), vor einer „Verhunzung“ der „schönen deutschen Sprache“ und einer „Anbiederung an den Zeitgeist“ wurde gewarnt.
Emotionale Reaktionen
„Vertrottelte Indoktrinierung“ wurde ORF.at vorgeworfen, die Wiedergabe anderer eher wüster Anschuldigungen würde wohl die Grenzen dessen sprengen, welche Worte eine öffentlich-rechtliche Nachrichtenwebsite verwenden darf. Die Dramatik der Sprache und die Emotionalität der Kritik legen fast den Schluss nahe, mit der Sichtbarmachung von Frauen in der Sprache gehe die Entrechtung sämtlicher Männer und gleich der Untergang des Abendlandes einher. Nicht fehlen durfte auch der Vorwurf, die Redaktion sei dem „Genderwahn“ verfallen, eine Diktion, die auch FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache auf Facebook und Twitter verwendete.
Positives Echo auf Twitter
Überhaupt schlug die Aktion in den Sozialen Netzwerken hohe Wellen. Auf Facebook sorgten Idee wie Umsetzung für einige Debatten. Sichtbarer war das Echo auf Twitter - und das fiel zum überwiegenden Teil positiv aus.
Freilich wurde auch auf Twitter Kritik geäußert - beginnend vom Sinn eines sensibleren Sprachgebrauchs an sich bis zu einzelnen Formulierungen; und auch daran, dass die eine oder andere Bezeichnung in ORF.at im ersten Anlauf übersehen wurde und männlich blieb. Allerdings gab es auch auf Twitter das eine oder andere gröbere Missverständnis.
Frau im Bild
Neben dem sprachlichen Experiment nutzte die Redaktion auch das zweite Werkzeug, das ORF.at zu Verfügung steht: Bilder. Über den gesamten Tag hinweg wurden größere Artikel in der Bildleiste ausschließlich mit Frauen illustriert, wenn es darum ging, Personen zu zeigen.
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ORF.at am Frauentag im Schnelldurchlauf
Den ganzen Tag blieb die Bildleiste in ORF.at Frauen vorbehalten.
Das war in einigen Fällen ganz einfach - auf dem EU-Gipfel stand ohnehin die deutsche Kanzlerin Angela Merkel im Mittelpunkt -, bei anderen war die Herausforderung größer: Kann man ein Champions-League-Spiel illustrieren, ohne einen Fußballer herzuzeigen? Auch hier gab es einige Reaktion von außen. Allerdings wurde das Vorhaben weder im Vorfeld noch am Tag selbst in ORF.at kommuniziert - die Gestaltung sollte für sich selbst stehen.
Erst auf den zweiten Blick
Doch auch die ungewohnt weibliche Sprachform stach nicht sofort ins Auge: Vielleicht überraschend - auch für die Redaktion - war, dass sich diese vor allem erst auf Textebene und nur vereinzelt augenfällig in Überschriften niederschlug. In der Bilderleiste von ORF.at trat kein einziger Fall auf und auch in den Titel der Kurzmeldungen nur vereinzelt. Das mag vor allem an den Eigenheiten journalistischer Sprache liegen, in der etwa direkte Anreden der Leserinnen und Leser nicht vorkommen.
Kämpfer oder Kämpferinnen?
Damit waren es vor allem weibliche Mehrzahlformen bei der Bezeichnung von Gruppen, bei denen gesichert oder potenziell nicht nur Männer dabei sind, die ins Auge stachen. In einzelnen Fällen sorgte genau dieser Punkt für Irritation - und auch Schwierigkeit bei der Handhabung innerhalb der Redaktion. Es wurden Fragen aufgeworfen, die in der sonst üblichen Schreibweise nicht Thema wären: Heißt es nun Al-Schabab-Kämpferinnen oder Al-Schabab-Kämpfer? Gibt es in der somalischen Terrormiliz auch kämpfende Frauen? Gibt es vereinzelt, damit wurde auch in die entsprechenden Meldung so formuliert.
Auch bei anderen Begriffen war nicht ganz einfach festzulegen, welche Formulierung jetzt die richtige ist. Die Arbeit jenseits sämtlicher sprachlicher Routinen stellte die Redaktion und das Lektorat vor Herausforderungen. Sämtliche Quellen bleiben ja wie üblich formuliert - und das eine oder andere Mal wurde im ersten Anlauf übersehen, die für diesen Tag „korrekte“ Form zu verwenden.
Negative Begriffe
Dass auch negativ konnotierte Begriffe wie „Attentäterinnen“ und „Dealerinnen“ in weiblicher Form verwendet wurden, sorgte für Ärger. Das sei eine „extreme Verunglimpfung von Frauen“, hieß es etwa in einer Reaktion. Einige Leserinnen und Leser saßen auch einem Missverständnis auf und glaubten, Ziel sei es, alle Begriffe zu „feminisieren“, und vermuteten demnach, dass die Redaktion „vergessen“ habe, auch gleich „Kanzlerin“ und „Vizekanzlerin“ zu schreiben. Doch die Regel lautete: Ist das biologische Geschlecht bekannt, bleibt auch die Bezeichnung dementsprechend.
Und wer ist jetzt gemeint?
Das führte in einigen Meldungen zu auf den ersten Blick ungewohnten Formulierungen: Einmal wurde die männliche Form gewählt, da es sich nachweislich nur um Männer handelte, für eine andere, gemischtgeschlechtliche Gruppe wurde die weibliche Mehrzahlform verwendet. Die mehrfach geäußerte Kritik daran: „Man kennt sich ja gar nicht mehr aus, ob es sich nun um eine Frau oder einen Mann handelt.“
Nur: Das üblicherweise verwendete Maskulinum bietet diese Klarheit auch nicht. Etwa die Sätze „Leser loben Sprachexperiment auf ORF.at“ und „Leser ärgern sich über Sprachexperiment auf ORF.at“ lassen offen, ob sich nur die Männer ärgern oder auch Frauen, obwohl auch hier die Unterscheidung nicht ganz unwesentlich ist.
Christian Körber, ORF.at