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Schule für Eurokraten statt Zuchthaus

Jahrelang war sie Italiens Alcatraz: Politische Dissidenten, Anarchisten, Bandenmitglieder, Mafiosi und Antifaschisten saßen auf der winzigen süditalienischen Vulkaninsel Santo Stefano im Golf von Gaeta meist lebenslänglich ein. Jetzt soll die ehemalige Gefängnisinsel ein Ort der Bildung für und von EU-Eliten werden.

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Die Insel im Tyrrhenischen Meer nahe Neapel besteht aus einem Felsen mit einer Fläche von etwa 27 Hektar und einer Höhe von bis zu 80 Metern über dem Meeresspiegel. Darauf steht verlassen ein auffälliges Gebäude: eine hufeisenförmige Festung, die im späten 18. Jahrhundert von den Bourbonen als Gefängnis errichtet wurde. 1965 wurde das Gefängnis geschlossen. Seither verfällt der Bau zusehends, nur ein kleiner Teil wurde renoviert.

Teil der Pontinischen Inseln

Santo Stefano gehört geografisch zu den Pontinischen Inseln und verwaltungsmäßig zur Gemeinde Ventotene. Sie liegt 1,6 Kilometer südöstlich der Insel Ventotene.

Das soll sich nach Plänen des italienischen Regierungschefs Matteo Renzi (Partito Democratico) bald ändern, wie die Website Poltico diese Woche berichtete. Er will 80 Mio. Euro in die in Hand nehmen, um das ehemalige Gefängnis in eine „Europäische Schule“ für künftige EU-Führungspersönlichkeiten umzubauen. Laut Polico, das sich auf Ortsansässige beruft, soll das geplante Ausbildungszentrum für alle ohne Einschränkungen zugänglich sein.

Strafvollzug als totale Kontrolle

Architekt Francesco Carpi entwarf den Bau als Panoptikum nach der Theorie des englischen Philosophen Jeremy Bentham (1748 bis 1832), wonach der Strafvollzug als totale und ununterbrochene Kontrolle der Häftlinge durchzuführen sei: Rund um den Innenhof verläuft eine kreisförmige Struktur, die Kreise sollen an Dantes Inferno erinnern.

Ruine auf Santo Stefano

Corbis/Sandro Vannini

Der Gebäudekomplex beherbergt 99 Zellen auf drei Etagen, Dienstwohnungen und weitere offizielle Gebäude. Gebaut wurde für rund 600 Insassen.

Künftig soll das solcherart konzipierte Gebäude bildungs- und karrierehungrigen (zukünftigen) Mitgliedern der europäischen Institutionen, Parlamentariern, Experten und Wissenschaftlern als Ausbildungsstätte und Kaderschmiede dienen. Renzi setze seine Hoffnungen darauf, dass Absolventen Santo Stefano Richtung Brüssel verlassen, Karriere machen und eingedenk ihrer Ausbildung in Italien dabei mithelfen könnten, dass sich die Machtverhältnisse in der Union zugunsten Italiens verschieben könnten, schreibt Politico.

Strategischer Schritt für mehr Einfluss in EU

Der italienische Ministerpräsident habe es zu einem Eckpfeiler seiner 2014 gestarteten Amtszeit erklärt, die Strukturreform der EU-Institutionen voranzutreiben, heißt es weiter. Er wolle der deutschen Dominanz mit einem deutlich aufgewerteten Einfluss seines Landes begegnen. „Renzi kämpft für ein wachstumsorientierteres Europa im Gegensatz zu einem von Sparpolitik dominierten“, wird der italienische Parlamentarier und Renzis Parteikollege Giampaolo Galli zitiert.

Der italienischen Ministerpräsident Matteo Renzi

AP/Geert Vanden Wijngaert

Renzi will Italiens Einfluss in der EU mit der geplanten Kaderschmiede erhöhen

Renzi argumentiert, dass die exzessive Bürokratie der EU sie blind gemacht habe gegenüber dem, was wirklich wichtig für die Wiederbelebung der Wirtschaft sei: Das sind laut dem Regierungschef vor allem Maßnahmen zur Förderung von Wachstum und Arbeitsplätzen. Auch in der schwelenden Flüchtlingskrise der Union nehmen die Spannungen zwischen Brüssel und Rom zu. Renzi wirft Europa vor, „vor Angst paralysiert“ zu sein. Bei einem kürzlichen Besuch auf der Gefängnisinsel Santo Stefano warnte er vor dem drohenden Schengen-Aus. Europa müsse seine „verlorenen Ideale“ wiederfinden.

Das Manifest von Ventotene

Die Insel Santo Stefano und ihre unmittelbare Umgebung sind symbol- und geschichtsträchtig im mehrfacher Hinsicht: Vor Santo Stefano liegt die Insel Ventotene - ebenfalls eine ehemalige Gefängnisinsel. Einer der Vordenker der Union, der auf der Insel inhaftierte Antifaschist Altiero Spinelli, schrieb hier am „Ventotene Manifesto“ (eigentlich „Per un’Europa libera e unita. Progetto d’un manifesto“, deutsch: „Für ein freies und einiges Europa“) mit.

Die 1941 verfasste programmatische Schrift gilt als wegbereitend für die Europäische Union. Gut möglich, dass Renzi bei der Ortswahl auch Spinellis Visionen vor Augen hatte. Schließlich glaubte Spinelli, dass Europas Mission scheitere, wenn es den Kontakt zu seinen Bürgern verlöre. Wenn man in Krisenzeiten nach vorne schauen wolle, müsse man den Blick in die Vergangenheit werfen, um seine Wurzeln wiederzuentdecken: „Das ist es, was uns Spinelli gelehrt hat“, zitiert Politico abschließend den Lokalpolitiker Danile Coraggio.

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