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1944 und 2014

In der internationalen medialen Berichterstattung spielt der Ukraine-Konflikt nur noch eine untergeordnete Rolle - doch für die Menschen in der Ukraine ist er tagtägliche Realität. Das zeigte sich nun auch bei der nationalen Vorausscheidung für den heurigen Song Contest in Stockholm.

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Siegerin ist eine Sängerin der Minderheit der Krimtataren und ein Song über eine Massendeportation durch den sowjetischen Diktator Josef Stalin gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Susana Jamaladinowa, die unter dem Künstlernamen Jamala auftritt, gewann in der Entscheidungsrunde das Voting einer Dreierjury und das Zuschauervoting. Ihr Song „1944“ verweist auf jenes Jahr, in dem Stalin die muslimische Minderheit der Tataren aus ihrer Heimat auf der Halbinsel Krim deportieren ließ. 2014 annektierte Russland im Zuge des Ukraine-Konflikts trotz weltweiter Proteste die Halbinsel.

„Wenn Fremde kommen“

In überfüllten Zügen wurden 1944 die Krimtataren, von denen Teile mit Nazi-Deutschland kollaborierten, nach Zentralasien deportiert. Tausende starben auf dem Weg oder verhungerten nach ihrer Ankunft. Erst unter Staatschef Michail Gorbatschow durften die Tataren in den 1980er Jahre auf die Krim zurückkehren. Jamala selbst wurde in Kirgisien geboren.

Susana Jamaladinova

Reuters/Valentyn Ogirenko

Jamala bei ihrem Auftritt Sonntagabend

Das Lied ist eine eigenwillige Kombination aus einer Standard-Popmelodie und einem zornigen Text. Der Song beginnt mit der Zeile: „Wenn Fremde kommen, dann kommen sie in dein Haus, sie werden dich töten und sagen: ‚Wir sind unschuldig.‘“ Jamala betonte gegenüber der Nachrichtenagentur AP, das Lied erinnere an das Schicksal ihrer Urgroßmutter. „Dieses schreckliche Jahr veränderte ihr ganzes Leben.“

Deutliche Anspielung

Im Liedtext wird die Einverleibung der Krim durch Russland nicht erwähnt, aber allein die Nominierung der Sängerin mit diesem Lied in einem der weltweit meistgesehenen TV-Events dürfte die Annexion zu einem Thema im Umfeld des Song Contest machen. Die Krimtataren beklagen, dass seit der Annexion der Krim die Unterdrückung zugenommen habe.

In dem Lied werde „die Besetzung und andere furchtbare Dinge, die die Besatzer in unserer Heimat machen, nicht erwähnt. Trotzdem behandelt es das Thema von Ethnien, die schreckliches Unrecht erleiden mussten“, so der Vertreter der Krimtataren, Mustafa Dschamilew.

„Selbstschutz“ im Dienste der Nazis

1941 besetzte die Deutsche Wehrmacht weite Teile der Krim. Wie in anderen eroberten Gebieten zuvor wurden Truppenverbände aus der lokalen Bevölkerung rekrutiert, die bei der Besatzung halfen. Teile der Tataren machten beim „Selbstschutz“ mit - andere Krimtataren kämpften dagegen auf sowjetischer Seite. Die Kollaboration von Teilen der krimtatarischen Bevölkerung mit den Nazis diente Stalin zum Vorwand, um nach der Rückeroberung der Krim durch die Rote Armee 1944 praktisch die gesamte tatarische Bevölkerung zu deportieren.

Politische Texte verboten

Die Regeln des Song Contest verbieten explizit politische Texte. 2009, nur wenige Monate nach dem Krieg zwischen Georgien und Russland, war der georgische Beitrag nicht zugelassen worden, weil der Text über den russischen Präsident Wladimir Putin herzog. Der ukrainische Beitrag im Jahr 2005, „Rasom Nas Bahato“, musste umgetextet werden, da er eine Hymne auf die Orange Revolution im vorangegangenen Jahr war. Es bleibt also abzuwarten, wie Moskau reagiert und ob die Wahl Jamalas im Vorfeld des Song Contest für politische Verwicklungen sorgen wird. Nach Wien im Vorjahr findet das Finale des Eurovision Song Contest heuer im Mai in der schwedischen Hauptstadt Stockholm statt.

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