Der „gute Hirte“ als das Böse in Person
Was als schwülstige Liebesgeschichte unter dem Banner der Revolution beginnt, entwickelt sich rasch zum klaustrophobischen Alptraum: In „Colonia Dignidad - Es gibt kein Zurück“ erzählt der deutsche Regisseur Florian Gallenberger (43) ein dunkles Stück Zeitgeschichte mit Hilfe von zwei fiktiven Charakteren. Das Experiment gelingt, nicht zuletzt wegen der beeindruckenden Leistung der Schauspielerriege.
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Die Vermengung von Realität und Fiktion auf der Kinoleinwand ist ein heikles Unterfangen. Umso mehr, wenn es sich bei den Begebenheiten um eines der dunkelsten Kapitel der jüngeren Geschichte handelt. 1961 gründete der deutsche Wanderprediger und ehemalige Wehrmachtsangehörige Paul Schäfer in Chile die Sektensiedlung „Colonia Dignidad“.
Foltereinrichtung des Regimes
Nach außen hin wirkte die Siedlung wie ein Ort des Friedens. Die Bewohner der „Colonia“ lebten fromm und still das Leben der einfachen Bauern. Doch im Inneren führte Schäfer ein Schreckensregime: Bespitzelung, Demütigung vor allem der weiblichen Sektenmitglieder und sexueller Missbrauch standen an der Tagesordnung.
Schäfer pflegte enge Kontakte mit der chilenischen Militärdiktatur, der er über seine Kontakte in Deutschland Waffen und Giftgas besorgte. Zudem durfte die Junta Schäfers schwer befestigte Anlage südlich der Hauptstadt Santiago de Chile als Foltergefängnis nutzen. Hunderte Regierungsgegner kamen in den Bunkern der mit Stacheldraht und Selbstschussanlagen gesicherten Anlage um. Wer fliehen wollte, dem wurden die Kampfhunde auf den Hals gehetzt.
Der Revolutionär und die Stewardess
Gallenbergers Film steigt kurz vor der Machtübernahme von General Augusto Pinochet ein. Der deutsche Fotograf Daniel (Daniel Brühl) lebt den Traum der Revolution. In der Studentenbewegung des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende entwirft er Plakate und fängt die Aufbruchsstimmung auf den Straßen mit seiner Kamera ein.

Majestic/Ricardo Vaz Palma
Die Flucht von Lena und Daniel schlägt fehl
Als Daniels Freundin Lena (Emma Watson), eine Stewardess, zu Besuch kommt, droht der Film zunächst in den Kitsch abzurutschen. Doch bevor es so weit kommt, fährt die Realität dazwischen: Am 11. September 1973, zwei Tage nach Lenas Ankunft, putscht sich das Militär an die Macht. Allende-Anhänger werden reihenweise verhaftet, auch Lena und Daniel werden von Soldaten aufgegriffen. Als ein Scherge der Junta in Daniel den Gestalter der Pro-Allende-Plakate erkennt, wird er in die „Colonia Dignidad“ verschleppt.
Beklemmende Atmosphäre
Während Daniels Martyrium in den Folterkellern der Siedlung beginnt, macht sich Lena auf die Suche nach dem Verschwundenen. Nachdem ihr ein Menschenrechtsaktivist einen Tipp gibt, versucht Lena ihren Freund aus den Fängen der religiösen Eiferer zu befreien. Sie schließt sich der Sekte an und landet im Frauentrakt der „Colonia“.
Von hier an wird es für den Zuseher beklemmend: Regisseur Gallenberger recherchierte nach eigenen Angaben vier Jahre lang die Geschichte der „Colonia“ und traf zahlreiche Zeitzeugen. Dank dieser Akribie entfaltet vor allem der Mittelteil des Films eine unglaublich dichte, bedrückende Atmosphäre. Hinzu kommt die Performance des schwedischen Schauspielers Michael Nyquist, der als sadistischer, scheinbar allwissender Beichtvater Schäfer zu überzeugen weiß.
Schäfer überwacht seine „Herde“, die er in „Gottes Himmelreich“ führen will, mit den Mitteln eines Gestapo-Beamten. Schon die Kleinsten werden als Spitzel rekrutiert, die Sektenmitglieder mit Psychopharmaka ruhiggestellt, jedes Mitglied der Gemeinde kann jederzeit und unverhofft Opfer erniedrigender Rituale oder Prügelstrafen werden.
132 Tage in der Hölle
Thematisiert wird auch der tausendfache sexuelle Missbrauch kleiner Buben, für den Schäfer 2006 zu einer Haftstrafe von 33 Jahren verurteilt wurde. Der Film fasst die Doppelmoral des ach so frommen Predigers in einer bedrückenden Szene zusammen. Erst dirigiert Schäfer den Knabenchor der jungen „Colonia“-Mitglieder, ehe er die Kinder nacheinander unter die Dusche schickt.
Gegen Ende des Films nimmt die Handlung nochmals an Fahrt auf: Nach 132 Tagen wagen Lena und Daniel einen Fluchtversuch. Am Ende des Films thematisiert Gallenberger dann auch noch die unrühmliche Zusammenarbeit der BRD mit der chilenischen Militärjunta, als Bonns Botschafter in Chile dem verzweifelten Paar eine lebensgefährliche Falle stellt.
Der Star ist die Mannschaft
Gallenberger sorgt mit seiner ruhigen Inszenierung dafür, dass aus dem Film kein Lehrstück über politische Moral wird. Stattdessen rückt er das Schicksal seiner Protagonisten in den Vordergrund, ihren Kampf ums Überleben in einem Unrechtsregime.
Das Prädikat „sehenswert“ verleiht dem Film aber die brillante Schauspielriege: Watson überzeugt als taffe Protagonistin, die mit Mut und Beharrlichkeit die Qualen des Sektenlebens übersteht. Brühl gibt den nicht minder willensstarken Daniel, den auch Folterungen nicht brechen können. Und Nyquist pendelt zwischen fanatischem „Sprachrohr Gottes“ und brutalem Nazi-Schergen.
Ein wenig historisches Hintergrundwissen ist vor dem Gang ins Kino allerdings zu empfehlen. Nicht, dass man der Handlung sonst nicht folgen könnte. Doch die Geschichte eines deutschen Laienpredigers, der in der Einöde Chiles einen „Mini-Terrorstaat“ (Copyright: Gallenberger) errichtet, ist fast zu unglaublich, um wahr zu sein.
Philip Pfleger, ORF.at
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