„Beim EuGH einklagbar“
Das Schicksal Hunderttausender Flüchtlinge hängt vom Ausgang der höchst kontroversiellen politischen Debatte ab, welche die EU-Mitgliedsländer seit Wochen mehr gegeneinander als miteinander führen - und bei der ein Ende noch nicht absehbar ist. Im Zentrum dieser Debatte steht ein Wort, das alle im Mund führen, obwohl jeder etwas anderes damit meint: „Solidarität“.
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Kaum ein Wort wird in der Flüchtlingskrise öfter gebraucht als „Solidarität“. Entgegen dem landläufigen Eindruck, handelt es sich dabei nicht um ein „Buzzword“, das in Sonntagsreden und bei EU-Treffen mantraartig wiederholt werde, betonte die Politologin Michele Knodt in einem Interview mit ORF.at im September 2015. Vielmehr „haben wir hier eine primärrechtliche Verankerung einer wirklichen Norm“.
Der Begriff der Solidarität - die ein ähnliches Grundprinzip wie die Subsidiarität ist - tauche in der Geschichte der EU von Anfang an auf und finde sich bereits 1951 in der Präambel zur Montanunion. Im Lissaboner Vertrag sei die Solidarität aber wesentlich aufgewertet worden. Dort finde sie sich gleich 20-mal wieder, und das nicht nur in der Präambel, sondern in einzelnen Politikfeldern - wie etwa der Asylpolitik. Die Solidarität sei also ganz klar etwas, „an dem man sich orientiert“, so die EU-Expertin und Herausgeberin des Buches „Solidarität in der EU“.
Von Beginn weg unsolidarisch
Und für die Politologin ist klar, dass das auch Konsequenzen hat: Die Flüchtlingspolitik sei - neben der Griechenland-Krise - derzeit das wichtigste Feld, wo Solidarität eingefordert werde. Das Dubliner Abkommen habe von 2003 weg festgehalten, dass Asyl, Einwanderung und Grenzkontrolle Aufgaben seien, die unter den Prämissen Freizügigkeit, Solidarität und Fairness erfüllt werden müssten. Das kann laut Knodt „beim EuGH (Europäischen Gerichtshof) eingeklagt werden“. Geschehen sei das wohl nur deshalb nicht, weil es ein hochpolitisches Thema sei. Die Befürchtung, die von Klagen hier wohl bisher abhielt: die Sorge, dass der EuGH angesichts der bekannt proeuropäischen Grundeinstellung des Gerichtshofs die Weichen in Richtung Vergemeinschaftung der Asylpolitik stellen könnte.
Das wichtigste Recht
Das Primärrecht ist laut dem Rechtsinformationssystem Eur-Lex das ranghöchste Recht in der EU: „Es steht an der Spitze der europäischen Rechtsordnung“ und umfasst im Wesentlichen die Verträge zur Gründung der Europäischen Union und ihre Folgeverträge, wie den Lissaboner Vertrag.
Das Dublin-System sei von Anfang an eben nicht solidarisch gewesen, da es „klar zulasten jener Länder geht, in denen Asylwerber oder Migranten erstmals die EU betreten“. Artikel 80 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU bestimme aber, dass „fair verteilt werden und es einen Lastenausgleich geben soll“.
Obwohl seit Jahren bekannt, sei nie etwas passiert, um diesen Zustand zu korrigieren, so die Expertin. Insofern sei das nunmehrige Powerplay von Deutschland, Frankreich, Österreich und Schweden gegen die mittel- und osteuropäischen Länder vor allem eines: der Versuch, diese Solidarität in dieser Krisensituation nachträglich einzufordern.
Lastenausgleich „nur Peanuts“
Die EU-Expertin betont im Interview, dass es hier drei Möglichkeiten gebe, diesen Lastenausgleich herzustellen. Einerseits finanzielle Umverteilung, konkret eine massive Aufstockung des EU-Flüchtlingsfonds. Den gebe es ja bereits, aber „das sind nur Peanuts, die im Moment umverteilt“ würden. Die zweite Möglichkeit sei die Umverteilung der Flüchtlinge - hier gibt es besonders starken Widerstand von osteuropäischen Ländern, insbesondere gegen eine fixe Quotenregelung. Die dritte sei die Angleichung der Rechtsnormen und der tatsächlichen Asylpraxis, „damit sich die Menschen nicht so ungleich verteilen“.
Die EU lebe von der Balance zwischen dem, was die Gemeinschaft machen soll, und der Wahrung der Souveränitätsrechte der Mitgliedsstaaten. Derzeit gebe es eine Schieflage zugunsten der Autonomie der Mitgliedsstaaten.
Sinnfrage für die Union
„Wenn wir diese Dynamik nicht durchbrechen, dann werden wir die Krise nicht meistern – egal in welchem Politikfeld.“ Es sei ja ein Deja-vu, denn die gleiche Art von Konflikt gebe es „in jedem Politikfeld“. Wenn die EU für die Flüchtlingskrise aber keine gemeinsame Lösung finde, müsse sich die Union die Sinnfrage stellen, also: „Wozu brauchen wir diesen Zusammenschluss überhaupt?“
Knodt warnt davor, zu glauben, dass diese Krise, so wie alle früheren, früher oder später sowieso gelöst wird. Denn keine der vielen krisenhaften Phasen sei von selbst vorübergegangen. Das erfordere vielmehr viel „harte Arbeit“.
Kosten für schnelle Integration
Einen Kompromiss zu finden werde aber immer schwieriger, je mehr Politikfelder davon betroffen seien. Und es sei nicht hilfreich, „dass wir den Weg der schnellen Integration gegangen sind. Wir haben ja keine europäische Identität in dem Sinne, aber wir haben gemeinsame Werte, doch die müssen wachsen.“ Die rasche EU-Osterweiterung sei auf Kosten der Werte gegangen - „und das sehen wir jetzt“.
Gelöst habe die EU Krisen stets mit Hilfe einer Mischung aus Appell an die Werte der Union und pragmatischem Dealmaking. Sprich: Hauptgegnern eines Kompromisses wird ihre Zustimmung mit mehr Geld oder Entgegenkommen in anderen Politikfeldern abgegolten. In Finanzkrisenzeiten sei diese Art des Interessenausgleichs freilich auch nicht mehr so einfach.
Experte: Gefährlicher Dominoeffekt
Auch Yves Pascouau, Migrationsexperte des Brüsseler Thinktanks European Policy Centre (EPC), spricht - bezogen auf die Aussetzung des Schengen-Abkommens durch mehrere Staaten, darunter Österreich - gegenüber ORF.at bereits im Herbst von einer „bisher nicht da gewesenen Situation in der EU“. Der „Dominoeffekt“, mit dem ein Staat nach dem anderen die Grenzkontrollen wiedereingeführt habe, sei ein „Warnsignal“.
Mehrere Staaten würden – oft aus „nicht so guten innenpolitischen Gründen“ – die Solidarität Solidarität sein lassen. Pascouau ist überzeugt: „Wir brauchen sehr viel mehr Integration bei der Asyl- und Migrationspolitik“ – sprich eine Verlagerung von Kompetenzen der Innenminister auf EU-Ebene. Er räumt aber ein: „Davon sind wir weit entfernt.“
Solidarischer Treppenwitz
Die EU-Expertin Knodt verweist ihrerseits darauf, dass der Streit mit den mittel- und osteuropäischen EU-Ländern über die Solidarität etwas von einem Treppenwitz an sich hat - auf einem anderem Feld, dem der Energieversorgung, seien es nämlich gerade diese Länder, die gleich nach ihrem Beitritt 2005 die Solidarität der anderen EU-Länder einforderten - mit Erfolg: Denn sie hatten angesichts der ersten russisch-ukrainischen Gaskrise Angst, im Winter ohne Energie dazustehen, da sie damals fast vollständig von Russlands Gaslieferungen abhängig waren. Auf Drängen von Polen und Co. wurde daher die Solidarität als Norm im Energiebereich in den Lissaboner Vertrag aufgenommen.
Guido Tiefenthaler, ORF.at, aus Brüssel
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