Deutsche Angst und belgische Ruhe
„Schrott-AKWs“ und „Pannenmeiler“: In der deutschen Presse gehen die Wogen nach einer Serie von Zwischenfällen in den belgischen Atomkraftwerken in Doel und Tihange hoch. Die Städteregion Aachen, an der Grenze zu Belgien, will gegen die Wiederinbetriebnahme klagen. Auch die deutsche Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) äußerte bei einem Spontanbesuch bei der belgischen Regierung ihre Besorgnis über die „Flickenschusterei“ im Nachbarland.
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Belgiens Innenminister Jan Jambon erklärte ihr dabei, dass umfassende Inspektionen, zu denen Mitte Jänner auch Behördenvertreter der Nachbarländer geladen waren, gezeigt hätten, dass alle Reaktoren des Landes sicher seien. „Die Richtschnur der belgischen Regierung ist, dass wir keinen Millimeter bei der Sicherheit nachgeben,“ so der Minister.

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Die belgische Atomaufsichtsbehörde FANC, die für die Inspektionen zuständig ist, stellt den Meilern in regelmäßigen Abständen - auch nach den Abschaltungen - ein für den Weiterbetrieb ausreichend gutes Zeugnis aus. Für NGOs ist angesichts der Vergangenheit von FANC-Chef Jan Bens kein Wunder: Bens war vor seiner Bestellung jahrzehntelang in leitender Position bei Electrabel, dem Betreiber der beiden belgischen AKWs, tätig gewesen. Eingesetzt wurde er just nach der Entdeckung der Risse in den Druckbehältern 2012, als der damalige Leiter der Behörde seinen Hut nehmen musste.
Jodtabletten für alle
In einem Schreiben an seine internationalen Kollegen erklärte Bens, er könne sich nicht vorstellen, dass solche Mikrorisse nur in belgischen AKWs auftreten - Doel und Tihange seien daher nicht unsicherer oder sicherer als AKWs anderswo. Als Reaktion auf die jüngsten Zwischenfälle veröffentlichte die FANC aber einen Bericht, der neue Notfallpläne für einen Ernstfall vorsieht. So sollen dann Jodtabletten nicht nur an die Anwohner im Umkreis von 20 Kilometern, sondern an alle Belgier ausgegeben werden.

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52 Prozent des belgischen Stroms stammen aus Atomkraftwerken. Seit 2011 wird gespart: Nach und nach werden weniger Autobahnen beleuchtet.
In der belgischen Bevölkerung sind die Atomkraftwerke nicht ganz so ein Reizthema wie in Deutschland. Dass aber gerade jene Menschen, die innerhalb dieser 20-Kilometer-Zone leben, angesichts des Sicherheitsrisikos erstaunlich gelassen scheinen, liegt vermutlich daran, dass Electrabel ein wichtiger Arbeitgeber in einer wirtschaftlich alles andere als prosperierenden Region ist. Generell scheint man im französischsprachigen Landesteil Wallonie weniger kritisch zu sein, was möglicherweise auch mit den französischen Medien zu tun hat, die überwiegend deutlich weniger atomkritisch berichten.

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In Brüssel wird demonstriert
Dennoch ist auch in Belgien Proteststimmung zu erkennen. Die oppositionellen belgischen Sozialisten fordern Erklärungen von der Mitte-rechts-Regierung. In Brüssel war zuletzt erst Anfang der Woche für einen Ausstieg aus der Atomkraft demonstriert worden. Bereits weit über 800.000 Unterstützer fanden sich für eine internationale Onlinepetition mit dem Titel „Einige Tage, um ein neues Tschernobyl zu verhindern“, die vorige Woche gestartet wurde und dem Parlament in Brüssel vorgelegt werden soll.
Kühlwasser wird aufgeheizt
Auch die belgischen Medien berichten verglichen mit den deutschen verhältnismäßig zurückhaltend. Details über den derzeitigen Betrieb der Anlagen sorgen dennoch immer wieder für (negative) Verblüffung. So sind die beiden Kraftwerke offenbar für normales Kühlwasser schon zu sehr in Mitleidenschaft gezogen.
Die jüngsten Zwischenfälle
Nachdem die Reaktoren in Tihange und Doel nach 21 Monaten Stillstand wieder am Netz waren, kam es am 19. Dezember 2015 im Reaktor Tihange 1 zur automatischen Schnellabschaltung, weil eine Schalttafel Feuer gefangen hatte. Kurz darauf ging Doel 3 vom Netz, weil eine Heißwasserleitung geleckt hatte. Am 4. Jänner wurde das Wiederanfahren des Blocks Doel 3 wegen eines Defekts an einem Schalter verschoben, während die rasch reparierten Anlagen Tihange 1 und Doel 1 wieder den Betrieb aufnahmen.
Das übliche Kühlwasser mit einer Temperatur von unter zehn Grad Celsius könnte die Reaktordruckbehälter, die von Tausenden feinen Rissen durchzogen sein sollen, schädigen. Es wird daher schon seit einigen Jahren auf 30 Grad angewärmt, wie es in einem 2012 veröffentlichten Bericht heißt. Die Aufsichtsbehörden fürchten, dass bei der Befüllung ein thermischer Schock zur Katastrophe - im schlimmsten Fall einer Kernschmelze - führen könnte, heißt es darin weiter. Nach den Zwischenfällen Ende letzten Jahres ging man in Doel noch einen Schritt weiter und erhöhte die Temperatur des Kühlwassers auf 40 bis 45 Grad - quasi als letzten möglichen Schritt -, ab 50 Grad wäre das Wasser zu warm für eine Kühlung.
Eine im Jänner veröffentlichte Studie, die von den Grünen im Europaparlament in Auftrag gegeben wurde, kam zu dem Schluss, dass die Risse in den Meilern auf die geringe Qualität des beim Bau verwendeten Stahls zurückgehen - und die Reaktordruckbehälter schon bei Inbetriebnahme von Doel und Tihange nicht genehmigungsfähig gewesen seien. Die EU-Kommission will sich derzeit nicht einmischen. Man sei aber in regelmäßigem Kontakt mit verantwortlichen Behörden in EU-Staaten, damit europäische Sicherheitsstandards eingehalten werden, heißt es.
Sophia Felbermair, ORF.at, aus Brüssel
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