Kartoffelsäcke als Leinwand
Wirklichkeit, Porträts, Transzendenz: In diese drei Kategorien ist die weltweit einmalige Schau „Kunst aus dem Holocaust“ des Deutschen Historischen Museums in Berlin unterteilt. In den beiden ersten Bereichen geht es um den Alltag in den Lagern und Ghettos, in denen jene 50 jüdischen Künstler lebten, von denen die 100 ausgestellten Werke stammen, im letzten um das Innenleben der Schöpfer dieser Arbeiten.
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Aus 10.000 Werken, die in der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Jad Vaschem aufbewahrt sind, konnten die Kuratoren Eliad Moreh-Rosenberg und Walter Smerling besagte 100 Stück auswählen - 6.000 entstanden laut Moreh-Rosenberg noch während des Holocausts, etwa in Ghettos und Lagern. Entsprechend schwierig war es damals, an Arbeitsmaterial wie Farben, Pinsel oder Stifte heranzukommen, nur sechs der ausgestellten Bilder sind tatsächlich Gemälde im eigentlichen Sinne.
Auch Biografien der Künstler im Fokus
Die wurden dann zum Teil auf provisorischen Leinwänden aus Kartoffelsäcken gefertigt. Entstanden sind die in der Ausstellung zu sehenden überwiegend grafischen Blätter zwischen 1939 und 1945 unter unmenschlichen Bedingungen im Geheimen. Die Künstler, deren Biografien ebenso im Fokus stehen wie ihre Werke, eint trotz aller Unterschiede, was Alter, Herkunft und Geschlecht anbelangt, die Kraft des Geistes im Angesicht von Elend und Tod in den Lagern und Ghettos.
Gedenkstätte Jad Vaschem
Jad Vaschem („Denkmal und Name“) in Jerusalem ist die größte Holocaust-Gedenkstätte der Welt. Sie wurde 1953 auf Beschluss des israelischen Parlaments gegründet. Wissenschaftler haben dort das weltweit größte Archiv zum Thema aufgebaut und unter anderem die Namen von etwa viereinhalb Millionen ermordeten Juden dokumentiert. Die Gedenkstätte sammelte etwa 10.000 Kunstwerke.
24 von den 50 präsentierten Künstlern überlebten den Holocaust nicht - sie wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Größtenteils handelt es sich um unbekannte Namen, aber auch bekannte Künstler wie Felix Nussbaum sind vertreten, der im Brüsseler Exil malte und 1944, nachdem er aufgeflogen war, deportiert und mit seiner Frau in Auschwitz ermordet wurde.
Einzige Überlebende
Die einzige Künstlerin der Ausstellung, die 71 Jahre nach Kriegsende noch am Leben ist, ist Nelly Toll. 1943 malte sie im Alter von acht Jahren ein Bild von zwei Mädchen, die in gepunkteten Kleidern über eine Wiese gehen. Sie werde oft gefragt, ob sie Zeichenunterricht bekommen habe oder besonderes Talent habe, sagte Toll im Rahmen der Ausstellungseröffnung. In ihren Augen keines von beidem - sie habe einfach sehr viel Zeit gehabt.
Damals versteckte sie sich mit ihrer Mutter in einer kleinen Kammer bei einer christlichen Familie in Lemberg, dem heutigen Lviv in der Ukraine: „Die Charaktere auf dem Papier wurden meine Freunde.“ Schon 1941 musste sich Nelly Toll in diesem Zimmerchen verstecken - die Nazis waren einmarschiert, die SS hatte fast die gesamte jüdische Gemeinde ermordet, so auch Nellys fünfjährigen Bruder. Weil sie leise zu sein hatte, um nicht entdeckt zu werden, malte sie all die Dinge, die ihr verwehrt blieben, erzählte sie der „TAZ“.
Collection of the Yad Vashem Art Museum, Jerusalem
„Ein Frühling“ von Karl Robert Bodek und Kurt Conrad Löw
Was die Bilder allgemein betrifft, so zeugen sie von einem Widerstreit zwischen der Wirklichkeit des Holocaust und einer imaginativen Gegenwelt. Gezeichnet und gemalt wurde in einem kompromisslosen Akt des Widerstands unter Lebensgefahr. Manche zeigen erlittene Grausamkeiten, andere ein abhanden gekommenes Idyll, wieder andere inneres Seelenleben in Form ausdrucksstarker Porträts.
„Perspektive der jüdischen Opfer“
Dass diese Werke überhaupt gezeigt werden können, grenzt an ein Wunder. Die Urheber dieser Arbeiten versteckten sie, wie etwa Jacob Lipschitz, der sie in Tonkrügen verstaute, um diese dann unter der Erde zu verscharren. Beim Transport ließ man entsprechend Sorge walten, verpackte jedes einzelne aus der Sammlung von Jad Vaschem gelöste Exponat liebevoll und verschickte die Kunstwerke in zwei Tranchen - damit im Fall des Falles so wenig Schaden wie möglich entstünde.
Infos zur Ausstellung
„Kunst aus dem Holocaust - 100 Werke aus der Gedenkstätte Yad Vashem“, Deutsches Historisches Museum, 26. Jänner bis 3. April. Täglich 10.00 bis 18.00 Uhr. Eintritt bis 18 Jahre frei.
„Diese Werke, die den Holocaust überdauert haben, erlauben uns einen Einblick in die Fähigkeit der Kunst, die Perspektive der jüdischen Opfer zu vermitteln“, erläuterte der Vorsitzende von Jad Vaschem, Avner Schalev, noch vor der Eröffnung der Schau folgerichtig.
Die ausgestellten Künstler haben im Bewusstsein des nahenden Todes Werke geschaffen, die sie überleben sollten. Andere wiederum nahmen hohe Risiken auf sich, um diese Werke zu retten. „Kunst ist eine mächtige Antwort gegen Unterdrückung und Terror“, so Kokurator Smerling. „Diese Ausstellung ist eine Mahnung, die Würde des Menschen hochzuhalten, denn sie ist der unantastbare Kern unseres Daseins.“
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