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Warnung vor Dominoeffekt

Europaweit großes Aufsehen erregt die Entscheidung der österreichischen Regierung von Mittwoch, die Aufnahme von Flüchtlingen zu deckeln. 2016 soll die Zahl auf 37.500 mehr als halbiert werden. Die Reaktionen schwanken zwischen Verständnis und Kritik. Die Entscheidung Österreichs könnte jedenfalls weitere Kreise ziehen.

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In einer ersten Reaktion zeigten sowohl EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker als auch EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) Verständnis für die Beschlüsse Österreichs. Er „möchte Österreich größten Respekt“ abstatten. „Es wäre keine Krise, wenn sich alle Länder beteiligen würden“, so Schulz während einer Pressekonferenz in Straßburg. „Ich kann verstehen, was beschlossen wurde.“ Dass Kritik aus Ländern komme, die sich nicht an der Bewältigung der Situation beteiligten, halte er für zynisch. Wer aber aus Syrien vor den Kämpfern des Islamischen Staats (IS) oder den Luftangriffen der Regierungstruppen fliehe, werde sich von Obergrenzen nicht abhalten lassen, sagte der SPD-Politiker.

Auch Juncker verwies auf die fehlende Einigkeit in Europa. „Wenn alles umgesetzt worden wäre, was wir beschlossen haben, dann wäre es nicht so, dass nur drei, vier Länder mit dieser Krise befasst sind.“ Schärfere Grenzkontrollen seien im Rahmen des Schengen-Systems erlaubt, so Juncker. Er warne trotzdem davor, dass leichtfertig echte Grenzschließungen vorgenommen werden – das würde Schengen im Endeffekt aushebeln und Auswirkungen haben, „die ich mir nicht vorstellen will“.

ORF-Korrespondent Fritz über Obergrenzen in EU

ORF-Korrespondent Peter Fritz berichtet, wie die EU auf Österreichs Vorstoß, eine Flüchtlingsobergrenze zu beschließen, reagiert.

Die EU-Kommission schweigt vorerst zu dem beschlossenen Höchstwert für Asylwerber. Eine Sprecherin von EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos wollte den Beschluss am Mittwochabend auf Anfrage der APA nicht kommentieren. „Es ist kein Rechtstext angenommen worden, und deshalb gibt es für uns nichts zu analysieren“, sagte die Sprecherin.

„Bedauernswerter Fehler“

Der Parteikollege und EU-Abgeordnete sowie Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe im EU-Parlament, Herbert Reul, bezeichnete die Entscheidung Österreichs hingegen als „bedauernswerten Fehler“. Eine nationale Obergrenze sei „auch unfair und unsolidarisch gegenüber anderen EU-Ländern“, so Reul. „Obergrenzen für Asylbewerber sind eine populistische, ja ängstliche Reaktion auf rechte Parolen“, sagte die SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel. „Sie bieten verunsicherten Menschen keine Antwort, sind rechtlich mehr als zweifelhaft und zudem der zynische Versuch, eigene Verantwortung auf andere abzuschieben.“

Das UNO-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR appellierte an Österreich, dem Schutzgedanken der Genfer Flüchtlingskonvention und des EU-Asylrechts weiterhin gerecht zu werden. Ansonsten könnte ein Dominoeffekt ausgelöst werden, der letztlich dazu führen würde, dass Menschen statt Schutz vor Krieg und Verfolgung verschlossene europäische Grenzen vorfinden könnten. Auch die deutsche NGO Pro Asyl übte heftige Kritik an der geplanten Deckelung der Flüchtlingszahlen: „Das wird zu einem Dominoeffekt führen“, warnte Pro-Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt. „Wir werden ein Europa der Zäune erleben, in dem jeder die Verantwortung an den Nachbarn abschiebt.“

Slowenien will ebenfalls Begrenzung

Der befürchtete Dominoeffekt macht sich bereits bemerkbar. Nach Österreich erwägt nun auch Slowenien, eine Höchstgrenze für Flüchtlinge einzuführen. Konkrete Maßnahmen sollen am Donnerstag beschlossen werden, kündigte Außenminister Karl Erjavec an. Ministerpräsident Miro Cerar hatte schon vor der österreichischen Entscheidung angekündigt, dass Slowenien seinerseits den Andrang von Flüchtlingen an der Grenze zu Kroatien eindämmen werde, sollte Wien weniger Flüchtlinge ins Land lassen. Man werde an seinen Grenzen genau die gleichen Maßnahmen wie Österreich treffen, hieß es aus Ljubljana.

Somit ist zu erwarten, dass Slowenien demnächst nur noch Flüchtlingen die Einreise gestatten wird, die Österreich oder Deutschland als Zielland nennen. Serbien hatte schon zuvor bekanntgegeben, nur noch Flüchtlinge mit Zielland Österreich oder Deutschland weiterreisen zu lassen. „Ab heute, auf Grundlage der Entscheidung der österreichischen Regierung, die uns von den Regierungen Sloweniens und Kroatiens mitgeteilt wurde, werden Migranten nicht mehr weitergelassen, wenn sie nicht ihre Absicht erklärt haben, um Asyl in Österreich oder Deutschland anzusuchen“, sagte der serbische Sozialminister Aleksander Vulin am Donnerstag.

Auch der kroatische Innenminister Ranko Ostojic gab an, sein Land dürften nur noch Migranten mit dem Ziel Deutschland oder Österreich passieren. Der Minister steht wegen einer neuen Regierung allerdings unmittelbar vor seiner Ablösung.

Berlin pocht auf „europäische Lösung“

Eine zurückhaltende Reaktion kam von der deutschen Regierung. Wirklich kommentieren wollte man den Beschluss Wiens nicht. Dem Flüchtlingskoordinator der deutschen Regierung und Kanzleramtschef Peter Altmaier zufolge handle es sich um eine Richtgröße. Wien wolle selbst noch weitere rechtliche Gutachten einholen: „Das alles wird man abwarten müssen.“ Regierungssprecher Steffen Seibert sagte aber: „Die Bundesregierung setzt weiter auf eine gemeinsame europäische Lösung, die bei den Fluchtursachen ansetzt, um die Zahl der Flüchtlinge spürbar und nachhaltig zu reduzieren.“

Zurückhaltend reagierte auch der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). Die Entscheidung aus Österreich wollte er nicht kommentieren, er warnte aber allgemein, ein Zerfall des Schengen-Raums, der für offene Grenzen steht, könnte schwerwiegende Folgen haben. Auch der niederländische Ministerpräsident und amtierende EU-Ratsvorsitzende Mark Rutte pochte auf eine EU-weite Lösung und eine effiziente Kontrolle der EU-Außengrenzen zur Reduktion der Flüchtlingszahlen. Das müsse innerhalb der nächsten sechs bis acht Wochen geschehen. Gelinge das nicht in dieser Frist, sei ein „Plan B“ notwendig, sagte er auch mit Blick auf Österreich.

Horst Seehofer und Angela Merkel

APA/AFP/dpa/Peter Kneffel

Merkel bleibt trotz des Drucks auch bei der CSU-Klausur in Wildbad Kreuth bei ihrer bisherigen Linie in der Flüchtlingspolitik. Sie lehnt eine Höchstgrenze ab.

Uneinigkeit in Deutschland

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (CDU) lehnte jedenfalls bisher eine konkrete Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen ab. Auch der deutsche Präsident Joachim Gauck vertrat auf dem Weltwirtschaftsforum im Schweizerischen Davos diese Ansicht: „Für Aufnahmefähigkeit gibt es keine mathematische Formel.“ Er sagte aber auch, dass eine „Begrenzungsstrategie moralisch und politisch sogar geboten“ sein könne und „nicht per se unethisch“, wenn sie helfe, „Akzeptanz zu erhalten“. „Gerade weil wir möglichst vielen Schutz bieten wollen, werden wir - so problematisch, ja tragisch es sein kann - nicht jeden aufnehmen können.“

Nicht alle in der CDU unterstützen allerdings Merkels Linie. Einige Politiker von CSU und CDU begrüßten den Schritt Österreichs. Das sei „ein deutlicher Fingerzeig, dass auch wir nicht mehr so weitermachen können wie bisher“, sagte etwa der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Stephan Mayer (CSU), dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ (Donnerstag-Ausgabe). Auch der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach rief die deutsche Regierung auf, ihre bisherige Politik zu ändern: „Die Entscheidung Österreichs sollte dazu beitragen, dass wir auch bei uns die Dinge nüchterner sehen.“

Merkel beugt sich Druck nicht

Angesichts der anhaltenden Kritik in der Union an Merkels Flüchtlingspolitik warnte SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann indes vor einer Regierungskrise. Altmaier sieht die Regierung dennoch weiter „handlungsfähig“. Doch bei ihrer Winterklausur in Wildbad Kreuth machte die bayrische CSU-Landtagsfraktion am Mittwoch erneut Druck auf Merkel. Sie fordert, dass Deutschland maximal 200.000 Flüchtlinge pro Jahr aufnehme. Das ist Teil eines Zwölfpunkteplans, den die CSU noch vor Merkels Auftritt bei der Klausur beschlossen hatte.

Wie schon zuvor ging Merkel bei der Klausur nicht auf die CSU-Forderung nach einer Obergrenze in Deutschland ein, bat dem Vernehmen nach aber um Unterstützung der Schwesterpartei. Sie bekräftigte vielmehr ihre Haltung, dass bei den Fluchtursachen angesetzt und eine europäische Lösung gesucht werden müsse. Sie wolle Mitte Februar eine Zwischenbilanz ziehen, „wo wir stehen“, zuvor aber die Regierungskonsultationen mit der Türkei, eine Geberkonferenz in London sowie ein EU-Treffen zur Flüchtlingskrise abwarten. Laut Teilnehmerangaben habe Merkel allerdings kritisiert, dass der Plan die Verhandlungen mit der Türkei erschwere.

CSU-Chef und Ministerpräsident von Bayern, Horst Seehofer begrüßte den Beschluss der österreichischen Regierung, eine Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen einzuführen. Das sei „die momentan einzige denkbare Lösung“, so Seehofer. Auch Deutschland brauche dringend eine Obergrenze. Es gebe allerdings keine Anzeichen, dass Merkel auf seinen Kurs einschwenke.

Gabriel pessimistisch hinsichtlich EU-Solidarität

Für den deutschen SPD-Chef und Vizekanzler Sigmar Gabriel ist die Einführung des Höchstwertes ein Zeichen, dass die Flüchtlingskrise nicht durch einzelne Länder bewältigt werden kann. „Dies ist das Signal, dass Länder wie Schweden, Deutschland und Österreich nicht in der Lage sind, das Flüchtlingsproblem allein zu lösen“, sagte Gabriel am Mittwochabend in Davos.

Zugleich äußerte sich der Vizekanzler pessimistisch zu den Aussichten auf ein solidarisches Vorgehen der EU-Mitgliedsstaaten. „Um ganz ehrlich zu sein, ich glaube nicht, dass wir zu einer europäischen Lösung kommen, bei der wir Flüchtlinge von den griechischen Inseln oder Italien auf alle Mitgliedsstaaten verteilen können“, sagte Gabriel. Dafür gebe es bei der Mehrheit der EU-Staaten keine Bereitschaft.

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