Themenüberblick

Warnung vor Nebenwirkungen

Wer sich in der „Brüsseler Blase“, also der Welt der europäischen Diplomaten, Politiker, Bürokraten, Lobbyisten und Journalisten, bewegen will, ist mit einem Leitsatz gut bedient: Nichts ist, was es zu sein scheint. Das gilt ganz besonders für den EU-Fachjargon, mit dem alle um sich werfen.

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Mit gutem Willen kann man sagen, dass diese Fachsprache eine innere Logik hat und eigentlich die Kommunikation erleichtern sollte. Für Außenstehende sind diese Codes freilich ein Buch mit sieben Siegeln und dazu angetan, das Image, die Union sei eine abgehobene Eurokratie, zu verstärken.

Der EU-Jargon besteht aus Hunderten Kürzeln, einem Mischmasch aus französischen und englischen Begriffen und einer so starken Vorliebe für geografische Namen als Platzhalter, die einen wider Willen zum Meister in einer EU-Version von „Stadt, Land, Fluss“ macht. Dazu kommt eine scheinbar diebische Freude daran, unterschiedliche Dinge (fast) gleich zu benennen oder bereits existierende Begriffe zu nehmen und ihnen eine völlig neue Bedeutung zu verpassen.

Fitnessprogramm der anderen Art

Wenn hüben wie drüben von der Rue de la Loi - sie hält EU-Kommission und -Rat auf sichere Distanz zueinander - vom „Sixpack“ gesprochen wird, ist folgerichtig weder ein Waschbrettbrauch noch eine gut tragbare Ansammlung von Bierflaschen oder -dosen gemeint. Vielmehr entführt der Begriff in die abenteuerliche Welt der Finanzkrise: „Sixpack“ bezeichnet jene sechs Gesetze, mit denen die durch zahlreiche Bankeninsolvenzen ausgelöste Schuldenkrise der Euro-Länder unter Kontrolle gebracht werden soll. Es geht also um Sparauflagen und ähnlich anstrengende Dinge. Mittlerweile wurde auf das Sixpack noch das „Twopack“ draufgesattelt, um die Euro-Länder - noch - fitter zu machen.

Chocktailbar

ORF.at/Guido Tiefenthaler

Auch ein Täuschmanöver: Schengen mitten im EU-Viertel entpuppt sich als Cocktailbar

Sie werden damit in das „Europäische Semester“ eingespannt. Das ist kein Folterinstrument, sondern ein fixer Zeitplan, der festlegt, wann alle EU-Länder ihre nationalen Budgets zur Überprüfung nach Brüssel schicken müssen. Das setzt einen einjährigen Zyklus an Konjunkturprognosen, Budgetentwürfen, Überprüfungen, Umsetzungen und neuerlicher Überprüfung in Gang.

Peitsche oder Karotte

Sprachliche Anleihen beim Sport nimmt die EU-Kommission auch bei einem Mittel, um die nationalen Regierungen vorzuführen: Sie zeichnet gerne „Scoreboards“ - also Ergebnistafeln -, um zu zeigen, welche Länder in einem gewissen Bereich fort- oder rückschrittlich sind - etwa in der Frage, wie digital die Gesellschaft ist.

Papier muss Farbe bekennen

Papier gibt es in allen möglichen Farben - das ist auch in Brüssel so. Ein „Grünpapier“ ist im EU-Kontext dann freilich auch nur weiß - meint aber eine erste Sammlung an Vorschlägen und Ideen der Kommission zu einem Thema, in dem sie Bedarf für eine Regelung auf EU-Ebene sieht. Dann werden Meinungen eingeholt - die eingearbeiteten Stellungnahmen machen das Grünpapier zum „Weißpapier“. Dem kann dann ein konkreter Gesetzesvorschlag (in der Realität dann auch auf weißem Papier gedruckt) folgen.

Eine besondere Spezies sind Non-papers, also „Nichtpapiere“: Das heißt aber nicht, dass sie gar nicht existieren oder nicht ausgedruckt werden können. Gemeint sind damit vielmehr Versuchsballons von einzelnen Ländern oder EU-Institutionen, um die Interessenlage zu einem bestimmten Thema zu testen oder eine Debatte zu starten. Der Vorteil, wenn man so einen Vorschlag Nichtpapier nennt: Man kann ihn jederzeit ohne Gesichtsverlust wieder zurückziehen - es gab ihn ja nie, oder? Es geht aber noch eine Stufe weiter: In „Non-Europe“-Papieren wird gleich ganz Europa - rhetorisch - aufgelöst. Inhaltlich geht es aber ums Gegenteil: In solchen Berichten wird vorgerechnet, was Europa an politischem oder wirtschaftlichem Schaden entsteht, wenn es zu einem bestimmten Thema kein gesamteuropäisches Vorgehen gibt. Vorbild ist der Bericht „The Cost of Non-Europe in The Single Market“, zu dem es mittlerweile eine aktualisierte Fassung gibt.

Papageien

ORF.at/Guido Tiefenthaler

Nicht verständlicher, aber unterhaltsamer: das Gezwitschere der wild lebenden Papageienkolonie im Jubelpark am EU-Viertel

EU-Pointillisten

Ganz besondere Papiere sind jene, auf denen sich „A-Punkte“ und „B-Punkte“ befinden: In diese beiden Kategorien wird vor Ratstreffen der Fachminister oder der Staats- und Regierungschefs das Programm aufgeteilt. A-Punkte sind dabei jene, über die sich im Vorfeld die Diplomaten der 28 Mitgliedsländer bereits einigen konnten. Sie werden meist von den Ministern nur abgehakt. B-Punkte sind dagegen heikler: Hier gibt es noch keinen Konsens, die Politiker müssen darüber verhandeln - und den Diplomaten neue Arbeitsaufträge erteilen, wie mit dem Thema weiter zu verfahren ist.

Zum Verwechseln ähnlich

Überhaupt der Rat: Er lässt eine ausgesprochene Neigung zu sprachlichen Parallelaktionen erkennen: Europäischer Rat, Rat der Europäischen Union und Europarat - sie klingen recht ähnlich, erst recht auf Englisch, sind aber völlig unterschiedliche Gremien. Dem Rat selbst ist die Verwechslungsgefahr durchaus bewusst. Der Europarat - er hat gar nichts mit der EU zu tun - bittet beinahe flehentlich, man möge ihn nicht in den EU-Topf werfen.

Des Rätsels Lösung, in aller Kürze: Die Staats- und Regierungschefs treten als Europäischer Rat zusammen. Die Minister, die Gesetze beschließen können, nennen sich etwas formeller Rat der Europäischen Union. Je nach Thema und Ressort, tagt der Rat dann in verschiedenen „Ratsformationen“ (Außenminister-, Innenminister- oder Landwirtschaftsministerrat etwa). Der Europarat - hier ist etwa auch Russland Mitglied - hat wiederum rein gar nichts mit den anderen beiden Räten zu tun - Maileingang und Postkasten des Europarats dürften aber wohl täglich voll fehlgeleiteter Post für den EU-Rat sein.

Von Dublin bis Schengen

Politische Abkommen werden traditionell gerne verortet, da macht Brüssel keine Ausnahme. Wie die jüngste Vergangenheit zeigt, funktioniert das im EU-Kontext für die Namensgeber aber nicht unbedingt im Sinne einer Gratistourismuswerbung. Eher im Gegenteil: Dublin muss nun damit leben, dass das Scheitern des gleichnamigen Abkommens die aktuelle Flüchtlingskrise wesentlich auslöste.

Maastricht ist aufgrund der Obergrenzen, die in der niederländischen Stadt den EU-Staaten für Neuverschuldung und Gesamtverschuldung auferlegt wurden, auch nicht populärer geworden. Werden die Kontrollen an den Binnengrenzen weiter verschärft, könnte auch das Image von Schengen leiden.

Krawatte verpönt

Zum „Gymnich“ treffen einander alle sechs Monate die EU-Außenminister zu einem informellen Treffen - für die Männer des Kreises bedeutet das: Krawatte ab, oberster Hemdknopf auf! Die Zusammenkunft findet natürlich nicht im gleichnamigen nordrhein-westfälischen Wasserschloss statt, sondern im jeweiligen EU-Vorsitzland. Der erste „Gymnich“ immerhin fand 1974 allerdings tatsächlich in Gymnich statt.

PSK und COCON

Was es neben Sandwichs, Regen und Männern in Anzügen im EU-Viertel wie Sand am Meer gibt, das sind Kürzel: Jede Generaldirektion der Kommission, jeder Ausschuss des Parlaments, fast jede Arbeitsgruppe im EU-Rat - und davon gibt es rund 150 - hat eine Abkürzung.

Nur ein Beispiel: „PSK“ ist nicht eine vergessene Filiale der gleichnamigen heimischen Bank, sondern einer der wichtigsten Ausschüsse im Rat - das hochrangig besetzte Politische und sicherheitspolitische Komitee. Es gestaltet entscheidend die EU-Außenpolitik und hat seinerseits 14 Arbeitsgruppen, die ihm zuarbeiten. Die Gruppennamen beginnen alle gleich „CO...“, etwa COCON (für konsularische Tätigkeiten).

Dazu kommen noch mehr als 40 EU-Agenturen, also ausgelagerte Behörden der Kommission, die bestimmte Themenfelder abdecken. Neben in der Öffentlichkeit bekannten wie der Grenzschutzagentur Frontex gibt es wahre Orchideenbüros wie CPVO. Das Kürzel steht für Community Plant Variety Office oder „Gemeinschaftliches Sortenamt“, das für die Schutzrechte von Pflanzensorten zuständig ist.

Code für Eingeweihte

Ein wichtiger Bestandteil des EU-Wortschatzes sind auch Codewörter, die so etwas wie die Grundpfeiler der EU wiedergeben: Neben der gern angerufenen Solidarität ist das im Bereich des Binnenmarkts etwa das „level playing field“ - also gleiche Bedingungen für alle Marktteilnehmer.

Der Witz daran: Weil diese Begriffe als Codes funktionieren, werden sie von allen Seiten und auch für einander widersprechende Positionen als Argument ins Treffen geführt. Zugleich haben diese Begriffe meist juristische Implikationen. Weil sie so universell präsent sind, werden sie für Nichteingeweihte aber zu reinen Worthülsen.

Styleguide für EU-Fachsprech

Für alle, die nun Lust bekommen haben, „Brüsselisch“ zu lernen, hat die Union ein Service bereit: einen interinstitutionellen Styleguide, einen Leitfaden also durch alle EU-Institutionen. Im Annex A4 finden sich die wichtigsten Abkürzungen - und in Abschnitt 10.8 Tipps für ihre Verwendung.

Passenderweise wird gleich am Anfang vor „exzessivem Gebrauch“ der Abkürzungen gewarnt. Sie sollten „soweit als möglich vermieden werden, weil der nicht fachkundige Leser sich nicht mehr als eine Handvoll davon merken kann“. Das lässt nur einen Schluss zu: Den Abschnitt 10.8 hat bisher niemand gelesen. Höchste Zeit für EIWG (Working Group for effective Implementation of Sector 10.8) - die Interinstitutionelle Arbeitsgruppe zur effektiven Implementierung von Abschnitt 10.8.

Guido Tiefenthaler, ORF.at, aus Brüssel

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