Die Vertreibung aus dem Paradies
Mit den „Dschungelbüchern“ hat der anglo-indische Erzähler Joseph Rudyard Kipling Weltruhm errungen. Der gefeierte Autor und Indien-Chronist war Freimaurer, Repräsentant des British Empire und wurde mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet, bevor er sich mit politischen Äußerungen ins Abseits katapultierte.
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Kipling wurde zu Lebzeiten mit Shakespeare und Dickens verglichen. 1907 erhielt er im Alter von 42 Jahren den Literaturnobelpreis, bis heute ist er der jüngste Preisträger. Mit seinen „Dschungelbüchern“ um den Buben Mogli und dem Meisterwerk „Kim“ sicherte er sich einen Platz in der Literaturgeschichte. Geblieben ist vom einstigen Ruhm jedoch vor allem die Erinnerung an den Kindergeschichtenerzähler, während seine für die Erwachsenenwelt verfassten Texte weitgehend vergessen sind.
Grund dafür sind Kiplings Huldigungen des britischen Kolonialismus, für die er als Rassist kritisiert wurde. Wie kein anderer verkörperte der Weitgereiste die Werte des Britischen Weltreichs. Obgleich er von der Überlegenheit der angelsächsischen Zivilisation überzeugt war, finden sich allerdings auch warnende und kritische Töne in seinen Texten.
Jähes Ende der Idylle
Kipling beschrieb die Verantwortung des Empire für die restliche Welt ebenso wie den Hass, der bei den kolonialisierten Völkern gegenüber den Kolonialherren entstand. Ihm war schmerzlich bewusst, dass die Tage des British Empire gezählt waren – und hielt doch daran fest. Davon sollte sich der Autor und Journalist in der öffentlichen Meinung bis heute nicht erholen.

Corbis
Kipling auf einem Gemälde von Philip Burne-Jones (Ausschnitt): Bis heute ist der Schriftsteller der jüngste Nobelpreisträger aller Zeiten
Am 30. Dezember 1865 im indischen Bombay (heute Mumbai) als erstes Kind von Alice und John Lockwood Kipling geboren, verlebte der Bub mit seiner jüngeren Schwester Alice unter der Obhut eines Kindermädchens und eines indischen Boys glückliche erste Jahre. Einen Einheimischen der niedrigsten Hindu-Kaste zu beschäftigen galt damals als ungehörig. Durch die finanziell angespannte Situation konnte im Hause Kipling auf derlei Konventionen keine Rücksicht genommen werden.
Die Idylle fand ein jähes Ende, als die Eltern beschlossen, die Kinder in England erziehen zu lassen. Entgegen den Gepflogenheiten, die Sprösslinge bei Verwandten unterzubringen, wurden die Kinder in die Obhut einer fremden Familie gegeben. Das unübliche Vorgehen ist laut Biograf Stefan Welz auf Geldmangel zurückzuführen. Eben noch war Rudyard in Indien von zwei Bediensteten umsorgt worden, als er sich plötzlich bei der unbekannten Ersatzfamilie als Zögling zu absolutem Gehorsam verurteilt wiederfand.
Erste literarische Gehversuche
Während seiner Ausbildung in der Kadettenschule in Devon sammelte Kipling bei der dortigen Schulzeitung Erfahrungen im Journalismus. Nach seiner Rückkehr nach Indien begann er mit knapp 17 Jahren als Redaktionsassistent in Lahore im heutigen Pakistan zu arbeiten. 1881 erschien mit „Schoolboy Lyrics“ seine erste Veröffentlichung. Davon erfuhr der junge Autor allerdings erst später, da seine Mutter die Gedichtsammlung ohne sein Wissen im Eigenverlag herausgebracht hatte.
Fortan arbeitete Kipling selbst an seiner journalistischen und literarischen Karriere. Er bereiste als Zeitungskorrespondent den indischen Subkontinent und trat den Freimaurern bei. Die in der „Indian Railway Library“ veröffentlichten Kurzgeschichten begründeten seinen Ruf als Chronist von Britisch-Indien. Wieder in England publizierte der mittlerweile erfolgreiche Journalist 1890 sein Romandebüt „Das Licht erlosch“, das jedoch kaum Beachtung fand.
Romantische Verstrickungen
Er heiratete die US-Amerikanerin Caroline Balestier, genannt Carrie, mit der er drei Kinder bekam. Eine Weltreise mussten die Frischvermählten vorzeitig abbrechen, als sie durch eine Bankenpleite viel Geld verloren. Daraufhin ließ sich das Paar im amerikanischen Vermont nahe Carolines Herkunftsort nieder. Das anfangs als Notlösung gedachte Heim in Brattleboro entpuppte sich als Glücksgriff, die Kiplings erlebten dort eine glückliche und produktive Zeit. 1894 und 1895 entstanden dort die weltberühmten zwei Bände des „Dschungelbuches“.
In so mancher Biografie wird die Vermutung geäußert, dass Kipling mit Wolcott Balestier, Carolines Bruder, nicht nur den gemeinsamen Roman „Naulahka“ verfasst haben soll, sondern mit ihm auch ein homoerotisches Verhältnis unterhielt. Stichhaltige Belege gibt es dafür nicht. Das Gerücht befeuert haben mag der Umstand, dass Kipling sein Anwesen in Brattleboro im Andenken an den damals bereits verstorbenen Freund „Naulahka“ nannte.
Flucht und neue Heimat
Die stetig wachsende Berühmtheit ließ bei den Eheleuten eine Sehnsucht nach Zurückgezogenheit entstehen. Kipling, der sich zeitlebens ein hohes Arbeitspensum auferlegte, arbeitete oft bis zur körperlichen Erschöpfung. Um ihrem Mann ein ungestörtes Schreiben zu ermöglichen, residierte Caroline im vorgelagerten Durchgangsraum zu seinem Arbeitszimmer und schirmte Rudyard von lästigen Besuchern ab.
1896 flüchteten die Kiplings nach einem unschönen und von der Presse genüsslich ausgeschlachteten familiären Prozess ins englische Rottingdean in Sussex. 1898 stieg Kipling mit seinen patriotischen Gedichten wie „Die Bürde des weißen Mannes“ zum Kämpfer für das British Empire auf. Das berühmt-berüchtigte Poem stieß bei vielen auf Ablehnung.
Schicksalsschläge und Erfolge
Auf Wunsch seiner Frau unternahm die Familie 1899 trotz des strengen Winters eine Schiffsreise nach Amerika. Vater und Kinder erkrankten dabei schwer. Der Autor wurde im New Yorker Hotel wie ein Popstar von Fans und Presse belagert. Unzählige Genesungswünsche von Lesern, Kollegen wie Arthur Conan Doyle und Persönlichkeiten bis hin zum deutschen Kaiser Wilhelm II. trafen ein. Die älteste Tochter überlebte die Strapazen der Krankheit nicht. Den Tod des Kindes, für den er seine Frau verantwortlich machte, überwand Kipling zeitlebens nicht.

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Rudyard Kipling einen Monat vor seinem Tod im Jahr 1936
Um 1900 nahm Kipling als Berichterstatter für eine Militärzeitung an den Ereignissen im Burenkrieg in Südafrika teil. In seinen in britischen Zeitungen veröffentlichten Gedichten attackierte er Regierung und Öffentlichkeit, weil man die Soldaten schlecht ausgerüstet in den Krieg gegen die übermächtigen Buren geschickt habe.
Von den kämpfenden Männern in Südafrika wurde der Autor für sein Gedicht „The Absent-Minded Beggar“ bejubelt. Das dem Wohltätigkeitsfond zur Unterstützung der Soldaten zur Verfügung gestellte Poem brachte viel Geld ein.
Die Zeiten ändern sich
Als zu Beginn des Ersten Weltkriegs die Abteilung für Kriegspropaganda ein Geheimtreffen mit führenden Schriftstellern Großbritanniens einberief, war Kipling neben Arthur Conan Doyle, Thomas Hardy und H. G. Wells daran beteiligt. Als sein Sohn John 1915 an seinem ersten Einsatztag starb, stürzte Kipling das in eine tiefe Krise. Er fühlte sich schuldig, da er John trotz Sehschwäche und unzureichenden Alters in den Krieg gedrängt hatte.
Kiplings politische Ansichten wurden zunehmend nationalistischer. In seinem unbändigen Hass gegen die Deutschen dämonisierte und verdinglichte er den Feind in grausamen Texten. Diese Schriften beschädigten den Ruf des Autors nachhaltig. Eine neue Zeit war angebrochen. Das war auch am schlechteren Verkauf seiner Bücher zu bemerken.
Buchhinweise
- Rudyard Kipling: Das Dschungelbuch 1 & 2. Steidl, 520 Seiten, 28 Euro.
- Rudyard Kipling: Die späten Erzählungen. Übersetzt von Gisbert Haefs. S. Fischer, 459 Seiten, 20,60 Euro.
- Stefan Welz: Rudyard Kipling - Im Dschungel des Lebens. Lambert Schneider, 272 Seiten, 29,95 Euro.
Kipling hatte bereits Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor dem Deutschen Reich und einer kommenden Auseinandersetzung gewarnt. Den Aufstieg Adolf Hitlers verfolgte Kipling ebenso mit Abscheu. Als die Nationalsozialisten die Swastika als Hakenkreuz zu ihrem Symbol machten, ließ der Schriftsteller umgehend alle indischen Sonnenräder von seinen Büchern entfernen. Zu verhasst waren ihm die Deutschen und alles Militärische.
Kiplings Leben und Werk im Fokus
Als Akt des Widerstands gegen die versuchte Vereinnahmung durch die Öffentlichkeit verbrannte Kipling viele Tagebücher, Briefe und Manuskripte. Die Boulevard-Presse hatte fingierte Interviews und Falschmeldungen zu seiner Person drucken lassen. Zudem vermeldeten Boulevard-Zeitungen den Tod Kiplings, obwohl dieser noch lebte. Kiplings sarkastischer Kommentar dazu soll gelautet haben: Man möge nicht vergessen, ihn von der Liste der Zeitungssubskribenten zu tilgen.
Anlässlich seines 150. Geburtstags werden das Leben und das Werk des Autors nun wiederentdeckt: Neben dem von Gisbert Haefs übersetzten Buch „Die späten Erzählungen“ und einer aktuellen Kipling-Biografie von Stefan Welz erscheint in Kürze auch eine Neuübersetzung des „Dschungelbuchs“ im Steidl Verlag. Auf die angekündigte Neuverfilmung muss noch gewartet werden, denn die Neuadaptierung des Klassikers mit den Stimmen von Bill Murray, Christopher Walken und Scarlett Johansson erscheint erst.
Carola Leitner, ORF.at
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