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Ruf nach Schutzmaßnahmen

Die Stahlindustrie in der Europäischen Union steuert auf kritische Zeiten zu. Das prophezeien Branchenvertreter und sehen in den kommenden Jahren Tausende Jobs bedroht. Auch einen Hauptschuldigen hat die Industrie bereits zur Hand und fordert von Brüssel schnelle Maßnahmen.

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„Über die Stahlindustrie sind weltweit dunkle Wolken aufgezogen“, sagte Anfang der Woche der Präsident der deutschen Wirtschaftsvereinigung Stahl, Hans Jürgen Kerkhoff. Für den Branchenvertreter ist auch die Herkunft der Gewitterwolken klar: China, das in den vergangenen Jahren seinen Stahlexport deutlich nach oben trieb.

Schwache Konjunktur - unverminderte Produktion

Allein in diesem Jahr exportierte die Volksrepublik bis August rund 70 Millionen Tonnen Stahl - das entspricht fast der Hälfte der jährlichen Stahlproduktion in der EU. Das geht aus einem aktuellen Bericht des US-Handelsministeriums zur Stahlindustrie hervor. Zum Vergleich: 2014 waren es laut dem International Steel Statistic Bureau (ISSB) über das gesamte Jahr etwas unter 89 Millionen Tonnen, im Jahr davor nicht ganz 87 Millionen Tonnen.

Die Ursache dafür liegt in der chinesischen Wirtschaft selbst beziehungsweise ihrem schwächelnden Wachstum. In der Volksrepublik wird zurzeit weniger Stahl gebraucht als geplant, die chinesischen Stahlwerke fahren die Produktion aber nicht zurück. Bis September produzierte China gerade einmal zwölf Millionen Tonnen weniger als im Jahr davor. Bei einer jährlichen Produktion von rund 820 Millionen Tonnen 2014 fällt das kaum ins Gewicht.

Günstiger als EU-Produzenten

Den Stahl, der nicht im Land gebraucht wird, muss China gezwungenermaßen anderswo loswerden. Wenn europäische Stahlproduzenten nun davon sprechen, dass das Land den Markt mit Stahl „überschwemmt“, ist das global gesehen wohl nicht falsch. Auch wenn nur ein Bruchteil des chinesischen Stahls direkt in der EU landet: der europäische Stahlverband Eurofer spricht von 7,5 Millionen im Jahr.

Doch einerseits verkaufen die europäischen Stahlproduzenten natürlich auch auf dem Weltmarkt. Andererseits gelangt über Drittstaatenimporte noch einmal deutlich mehr chinesischer Stahl in die EU, so die deutsche Wirtschaftsvereinigung Stahl. Um über 40 Prozent seien die Importe seit 2012 angestiegen, so Kerkhoff - Stahl, den die europäischen Produzenten nicht mehr selbst in Europa absetzen können.

Laut der Branche ist es aber nicht allein die Menge, die den europäischen Stahlproduzenten Kopfzerbrechen bereitet. Derzeit würden in Europa Stahlimporte aus China angeboten, deren Preise zwischen 15 und 20 Prozent unter den Preisen europäischer Hersteller lägen, sagte Voestalpine-Chef Wolfgang Eder bereits im September. Für den Manager und seine Branchenkollegen stehen hinter dem billigen Stahl Subventionen durch die Regierung in Peking.

Harter Schlag für britische Stahlindustrie

Eder, zugleich Präsident des Weltstahlverbandes, sah auf die Branche einen „massiven Preiskampf“ zukommen. Betroffen davon seien vor allem die Hersteller technologisch einfacher Stahlprodukte, so der Manager. Die jüngsten Entwicklungen in der britischen Stahlindustrie scheinen Eder rechtzugeben.

Ende September war bekanntgeworden, dass der Stahlproduzent SSI UK liquidiert werden müsse. Einen Monat später verkündete der größte britische Stahlkonzern Tata, er müsse rund 1.200 Stellen streichen. „Die britische Stahlindustrie verlor im Oktober an die 4.000 Jobs“, schrieb die BBC diese Woche über die Verwerfungen in der britischen Stahlindustrie.

Brüssel richtet es (noch) nicht

Die Branche sieht nun die EU gefordert. „Großbritannien muss den Moment nutzen und Brüssel zu einer schnelle Antwort anspornen, um weitreichenden Problemen für Stahlproduzenten in Großbritannien und auf dem Kontinent vorzubeugen“, so Gareth Stace, Direktor der britischen Stahlindustrie. Und er ist mit dieser Ansicht nicht allein. Auch die restlichen europäischen Branchenvertreter sehen den Ball bei der Politik. Es brauche „den kompletten Satz der verfügbaren Handelsschutzinstrumente“, forderte der Stahlverband Eurofer in einem Brief an die Regierungen der Mitgliedsstaaten.

Während die USA auf die Entwicklungen hin ihre Schutzregeln bereits verschärft hätten, sei die EU noch immer ein offener Stahlmarkt, lautet der Vorwurf an Brüssel, der so schnell nicht verklingen dürfte. Denn noch muss die Stahlindustrie auf EU-weite Maßnahmen warten. Zwar kamen die EU-Wirtschaftsminister am Montag zu einem Sondertreffen in Brüssel zusammen. Auf ein gemeinsames Vorgehen konnten sie sich aber nicht einigen.

Ganz im Gegenteil, für die europäischen Stahlproduzenten könnte sich die Lage in absehbarer Zukunft sogar noch verschärfen. Sollte die EU-Kommission China kommendes Jahr den Status einer Marktwirtschaft verleihen, wären Schutzmaßnahmen wie etwa Strafzölle im Grunde obsolet – mit weitreichenden Folgen für die europäische Industrie. Erst im September warnte eine Studie des Washingtoner Economic Policy Institute davor, dass in Europa 1,7 bis 3,5 Millionen Jobs in Gefahr wären.

Eigene Konjunktur bremst ebenfalls

Es greift aber wohl zu kurz, die Schwierigkeiten der europäischen Stahlindustrie allein mit China und dessen Exporten zu erklären. Der Eindruck bestätigte sich am Mittwoch, als Österreichs größter Stahlproduzent voestalpine die Halbjahreszahlen präsentierte und einen Ausblick bis Ende des Jahres gab. Als größten Dämpfer nannte der Konzern die schwächelnde Öl- und Gasindustrie.

Laut Eder ließen etwa Pipelineaufträge auf sich warten. „Dort sehen wir in den nächsten mindestens sechs Monaten keine Besserung“, sagte er bei einer Pressekonferenz. Der gesamte Energiebereich entwickle sich schwach und sei „das fünfte Jahr massiv unter Druck“. Ebenso werde die Bauindustrie „ in nächster Zeit“ schwach bleiben, so der voestalpine-Chef. Es sind also auch Konjunkturprobleme auf dem eigenen Kontinent, mit denen die europäische Stahlindustrie zu kämpfen hat.

Drohen mit der Abwanderung

Daraus machen die Stahlkonzerne freilich keinen Hehl und fordern gebetsmühlenartig Konjunkturprogramme. Zugleich sehen sie sich durch die europäische Klimapolitik massiv benachteiligt. Seit Jahren klagen die europäischen Stahlproduzenten über strenge Auflagen und damit verbundene Kosten, die sie im internationalen Wettbewerb zurückwerfen würden.

Gerade Eder kritisierte immer wieder die EU-Klimaziele im Hinblick auf die energieintensive Stahlindustrie als überzogen und realitätsfremd. Der voestalpine-Manager zieht auch regelmäßig die Drohkarte, der ob der Kritik an China allerdings ein etwas eigener Geschmack anhaftet: Sollte Europa seiner Stahlindustrie nicht entgegenkommen, müsse diese eben abwandern – etwa nach Asien. Gleich mehrere Werke will der Konzern in den kommenden Jahren in Asien errichten, darunter ein eigenes Edelstahlwerk in China.

Gewinne in Millionenhöhe

Alle Kritik und Sorgen können jedoch über eines nicht hinwegtäuschen: Auch wenn sie ihre Prognosen senken mussten, fahren viele europäischen Stahlproduzenten noch immer stattliche Gewinne ein. Der indisch-europäische Konzern und weltgrößte Stahlhersteller ArcelorMittal rechnet für das aktuelle Jahr trotz eines Minus im dritten Quartal immer noch mit einem operativen Gewinn von 5,2 bis 5,4 Milliarden Dollar.

Auch der deutsche Stahlkonzern Salzgitter musste zwar seine Gewinnerwartung für 2015 etwas nach unten revidieren. Das Unternehmen rechnet aber immer noch mit einem Vorsteuergewinn im zweistelligen Millionenbereich. Und die österreichische voestalpine dämpfte am Mittwoch zwar die Erwartungen der Anleger. Im hohen dreistelligen Millionenbereich wird der Gewinn in diesem Jahr aber dennoch liegen. Allein im ersten Halbjahr 2015 erzielte der Konzern einen vorsteuerlichen Gewinn von über 570 Mio. Euro.

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