„In den nächsten Tagen reden“
Nachdem Zehntausende Flüchtlinge über die Türkei nach Westeuropa gekommen sind, hat die Kritik an der Türkei wegen ihrer Kurdenpolitik und teils prekären Menschenrechtslage derzeit Pause: Denn die EU setzt in der Flüchtlingskrise auf die Türkei und einigte sich in der Nacht auf Freitag auf die Grundzüge einer künftigen Zusammenarbeit mit Ankara. Zahlreiche Detailfragen des Aktionsplans sind allerdings noch offen.
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„Wir werden mit der Türkei in den nächsten Tagen über die Finanzierung und das Ganze reden“, bilanzierte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker nach rund achtstündigen Beratungen in der Nacht auf Freitag in Brüssel. Ankara soll im Gegenzug für schärfere Grenzkontrollen beschleunigte Verhandlungen über Visaerleichterungen und einen EU-Beitritt sowie milliardenschwere Unterstützung bekommen.
Türkei dementiert Einigung: Nur Entwurf
Die türkische Regierung dementierte indes Freitagnachmittag die Grundsatzvereinbarung mit der EU in der Flüchtlingsfrage. Es gebe bisher lediglich einen Entwurf, über den gesprochen werde, sagte Außenminister Feridun Sinirlioglu in Ankara. Die von der EU bisher angebotene Finanzhilfe sei zu niedrig und „inakzeptabel“, sagte der Minister.
Dass für den Aktionsplan mit der Türkei ein Preis zu zahlen sei, hatte Juncker von Anfang an deutlich gemacht. Doch sahen sich die Verhandler in Brüssel bald mit höheren Forderungen konfrontiert als erwartet. Denn Ankara will im Gegenzug drei Milliarden Euro für die Versorgung von Flüchtlingen im Land - das ist dreimal so viel wie bisher von der EU angeboten. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (CDU) bestätigte, dass die Summe von drei Milliarden ein Thema gewesen sei.
„Wichtiger Schritt in richtige Richtung“
Der Aktionsplan sei „ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung“, sagte EU-Ratspräsident Donald Tusk, der zugleich einschränkte, dass die Vereinbarung nur Sinn ergebe, wenn sie den Flüchtlingszuzug tatsächlich einschränke. Merkel sagte, es sei in kurzer Zeit eine „sehr substanzielle Migrationsagenda“ abgearbeitet worden, die „Umrisse einer Kooperation mit der Türkei“ erkennen lasse.

APA/AFP/John Thys
Merkel hofft auf eine Lösung
„Neue Energie“ für Beitrittsverhandlungen
Vertreter der EU-Kommission hatten seit Mittwoch in der Türkei über eine Vereinbarung verhandelt. Das Land gilt als Schlüsselstaat bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise, da es nicht nur an Syrien, sondern auch an die EU-Mitglieder Bulgarien und Griechenland grenzt. Nun ist laut dem Aktionsplan vorgesehen, dass Ankara in Kooperation mit der EU-Grenzschutzagentur Frontex die Weiterreise von Flüchtlingen in EU-Staaten unterbindet.
Neben der angestrebten Visaliberalisierung wurde nun auch „die vollständige Umsetzung“ eines Rückführungsabkommens beschlossen, wie es in der Gipfelerklärung heißt. Gleichzeitig sollen die Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei „mit neuer Energie“ angegangen werden. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtete unter Berufung auf Diplomatenkreise, sechs weitere Kapitel könnten eröffnet werden.
Schlüsselfrage gar nicht diskutiert
Gar nicht diskutiert wurde die Frage, ob die Türkei auf die geplante EU-Liste sicherer Herkunftsstaaten gesetzt werden soll. Das ist vor allem wegen des Kurdenkonflikts und des zuletzt harten militärischen Vorgehens der Türkei in den Kurdengebieten umstritten. Die EU-Kommission hatte vorgeschlagen, die Türkei als sicher einzustufen. Mehrere EU-Staaten lehnen das aber bisher ab.

Reuters/Huseyin Aldemir
Die Türkei benötigt selbst Hilfe für die Bewältigung der Krise
Quotenfrage weiter ungelöst
Für einige Gipfelteilnehmer unerwartet kam es bei dem Gipfel zudem zu einer Dissonanz: Vor allem Deutschland und Österreich brachten nämlich auch das Thema Flüchtlingsquote zur Sprache. Das sorgte bei den Gegnern, insbesondere den Visegrad-Staaten Tschechien, Slowakei, Ungarn und Polen, für deutliche Verstimmung, da das Thema nicht offiziell auf der Tagesordnung stand.
Die EU-Staats- und -Regierungschefs verständigten sich laut Merkel daher auch nur auf eine unverbindliche Kompromissformel, wonach die 28 auf die Vorschläge der EU-Kommission „zurückkommen wollen“. Zugleich sei festgehalten worden, „dass es noch Meinungsverschiedenheiten gibt“. Der polnische Außenminister Grzegorz Schetyna sagte dagegen, eine „klare Mehrheit der europäischen Länder“ sei dagegen. „Die Angelegenheit ist erledigt.“
Faymann betont das Positive
Kanzler Werner Faymann (SPÖ) betonte das Positive: Die Unterschiede zwischen EU und Türkei seien klar, „aber dass man hier zusammenfindet, hat durch den Prozess der letzten Tage gute Chancen bekommen“, zeigte sich Faymann optimistisch. Und weiter: „Wenn ich daran denke, dass wir vor drei Wochen die Idee hatten, mit der Türkei zu reden, aber keinen Plan, sind wir ein schönes Stück weiter“, so Faymann.
Neuer EU-Kurs ruft Kritiker auf den Plan
Der im Schnellverfahren beschlossene neue Kurs ruft allerdings auch Kritiker auf den Plan. Milliardenzahlungen wären Wahlkampfhilfe für Erdogan, kritisierte Rebecca Harms, die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europaparlament, mit Blick auf die von Erdogan angesetzte Neuwahl am 1. November. „Die EU verliert jede Glaubwürdigkeit, und der Beitrittsprozess wird zum Basar degradiert, auf dem Flüchtlinge gegen Milliardenzahlungen und Visaliberalisierung getauscht werden“, so auch die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Ulrike Lunacek (Grüne).
Der FPÖ-Delegationsleiter im EU-Parlament, Harald Vilimsky, wetterte, die „türkische Erpressung lässt die EU in die Knie gehen“. Die deutsche CDU-Europaabgeordnete Renate Sommer warf der EU-Kommission vor, den kritischen Fortschrittsbericht auf Wunsch von Erdogan verschoben zu haben, weil der türkische Präsident vor der Wahl „keine öffentliche Rüge für die unhaltbaren Zustände in seinem Land“ wollte. Der Vorsitzende der konservativen EVP-Fraktion im EU-Parlament, Manfred Weber, kritisierte: „Die Ergebnisse des Gipfels sind für die Herausforderungen durch die Flüchtlingskrise eindeutig zu wenig.“
Zusagen hilfreich für Wahlkampf
Tatsächlich kann sich der im eigenen Land stark unter Druck gekommene Erdogan zwei Wochen vor der Parlamentswahl über Wahlkampfunterstützung aus Europa freuen. Die Aussicht auf visafreie EU-Einreise für Millionen Türken und frische Milliardenhilfen aus Brüssel wiegt dabei wohl schwerer als die geplanten Fortschritte in den Beitrittsverhandlungen. Von einem EU-Beitritt ist die Türkei indes noch weit entfernt. Von 35 Verhandlungsbereichen sind erst 13 eröffnet und einer abgeschlossen.
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