Der Kampf um die Stammtischhoheit
Wiener Politikerinnen und Politiker besinnen sich im Wahlkampf gerne auf die Sprache der Stadt: das Wienerische. Auf Plakaten ist die Rede vom „G’spür für Wien“, von „g’scheiten Kindern, statt g’stopften Politikern“ und vom „Pappn halten“. Kleine „Wienerisch“-Wörterbücher werden mit dem Hinweis „Weil wir Sie verstehen“ verteilt, und in Interviews und Wahlkampfreden heißt es oft: „auf gut Wienerisch“.
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Was nach dieser Phrase kommt, ist klar: Es wird Tacheles geredet. Die Strategie scheint naheliegend - zahlreiche Studien zeigen, dass Dialekt mit Nähe, Vertrautheit und Authentizität verbunden wird. Dennoch haben Dialekte ein geringeres Prestige als Standardsprachen. Untersuchungen zu Spracheinstellungen ergeben immer wieder, dass es zahlreiche Vorurteile gegenüber Dialektsprechern und Dialektsprecherinnen gibt: Dialekt wird oft mit geringer Bildung oder überhaupt mit geringerer Intelligenz seiner Sprecher und Sprecherinnen gleichgesetzt.

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Der Aufdruck auf dem Buchdeckel des Mini-Langenscheidt ist ganz in Standarddeutsch gehalten - darin finden sich Dialektbegriffe von A wie Aanserpanier bis Z wie Zwutschkerl
Die Sprachwissenschaft bezeichnet Dialekt als „Sprache der Nähe“. Standarddeutsch gilt im Gegensatz dazu als „Sprache der Distanz“. Doch bringt der Dialekt die Politiker wirklich näher zu den Wählerinnen und Wählern? Das Wienerische jedenfalls, das jahrhundertelang die anderen österreichischen Dialekte stark beeinflusste, verschwindet heute mehr als alle anderen österreichischen Dialekte aus dem Alltag.
Wiener Kinder wachsen nicht mehr mit Dialekt auf
„Der Wiener Dialekt wird seltener – vor allem bei den Jüngeren und als Alltagssprache“, sagt der Soziolinguist Manfred Glauninger. „In Wien geborene Kinder werden nicht mehr im Wiener Dialekt sozialisiert. Dass für Kinder und Jugendliche der Dialekt nicht mehr Alltagssprache ist, sei eine Tendenz, die fast im ganzen deutschen Sprachraum vor allem in den Großstädten beobachtet werden kann, so Glauninger im Gespräch mit ORF.at.
Die Mehrheit der Kinder in Wiener Pflichtschulen haben Deutsch außerdem nicht als Erstsprache – „woher sollen sie Wiener Dialekt können?“ Das sei aber nicht negativ zu sehen oder „furchtbar“, sondern einfach eine Tatsache, so Glauninger, der am Institut für Corpuslinguistik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften forscht und am Institut für Germanistik der Universität Wien lehrt.
Im Westen Österreichs ist das anders: In Tirol und Vorarlberg ist Dialekt nicht stigmatisiert, jeder spricht Dialekt, unabhängig vom sozialen Hintergrund. Kinder wachsen nach wie vor mit dem Dialekt als Alltagssprache auf. Der Wiener Dialekt hingegen sei für viele die Sprache der Unterschicht, so Glauninger, „auch wenn das heute nicht mehr zutrifft“.

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Die e-Synkope, also der Schwund des e im Wortinneren, ist typisch für das Wienerische. Weil das getilgte e unbetont war, braucht es die Apostrophe in diesem Plakat eigentlich gar nicht.
Der berühmte velarisierte Lateral
Das Wort Dialekt stammt aus dem Griechischen und bedeutet Art des Redens. Im deutschen Sprachraum finden sich besonders viele verschiedene Dialekte. Das Wienerische zählt zu den bairischen Dialekten – ebenso wie die anderen österreichischen Dialekte (mit Ausnahme des Vorarlbergerischen) und die Dialekte aus Bayern und Südtirol.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ist das entstanden, was heute als Wiener Dialekt bezeichnet wird. Durch die Zuwanderung aus Böhmen und Mähren entstanden zahlreiche neue Ausdrücke, die heute als „echt wienerisch“ gelten: Der „Strizzi“ stammt vom tschechischen „strýc“ (Onkel), „auf Lepschi gehen“ vom tschechischen „lepší“ (besser). Und auch der velarisierte Lateral, besser bekannt als Meidlinger L, geht auf das Tschechische zurück.
Aber auch andere Sprachen bereicherten den Wortschatz Wiens, so hat etwa der „Haberer“ seinen Ursprung im jiddischen Wort „chaver“ (Freund) und das „Beisl“ im jiddischen „bajis“ (Haus). Aus dem Ungarischen kommen die „Maschekseitn“ („másik“ - der, die andere), der „Mulatschak“ („mulatság“ - Feier, Unterhaltung) und das „Dschinakl“ („csónak“ - Kahn).
„Stigma der Unterschicht“
Früher wurde Dialekt in Wien hauptsächlich von Arbeitern und Dienstboten gesprochen. Das „Stigma der Unterschicht“ hafte dem Wiener Dialekt bis heute an, so Glauninger. Andererseits habe das Wienerische aber auch ein Prestige, im Tourismus, in der Musik und in der Werbung etwa.
„Wenn wir Sprache wahrnehmen, werden bestimmte Assoziationen ausgelöst. Bei Dialekt sind das beispielsweise Nähe, Gemütlichkeit, Authentizität. Im Wesentlichen sind das Stereotype und Klischees“, sagt Glauninger. Biolebensmittel würden etwa oft mit Dialekt beworben, das soll den Kunden das Gefühl vermitteln, das Produkt sei echt, vom Land, von unseren Bauern.
„Beim Wienerischen kommt außerdem immer auch eine gewisse Ironie dazu, ein Augenzwinkern“, so Glauninger. Gerade weil der Dialekt in Wien nicht mehr selbstverständliche Alltagssprache sei, habe er mehr und mehr diese zusätzliche Bedeutung.

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Auch die MA 48 macht sich in ihren Sujets den Wiener Dialekt zunutze - mit einem Augenzwinkern
Das Kreuz mit der Hackn
Dialekt auf Wahlplakaten hat dem Soziolinguisten zufolge zwei Funktionen: Er erregt Aufmerksamkeit, weil auf Plakaten normalerweise Standardsprache verwendet wird, und löst ein Wir-Gefühl aus. Fraglich ist allerdings, ob dieses Wir-Gefühl alle potenziellen Wählerinnen und Wähler erfasst. Denn dazu müssen diese die Dialektausdrücke erst einmal kennen.
Auf einem Plakat der Wiener SPÖ war in diesem Wahlkampf etwa zu lesen „Wien ist die beste Stadt der Welt. Aber was bringt dir das, wennst keine Hackn hast?“. Kann man davon ausgehen, dass alle potentiellen Wählerinnen und Wähler wissen, was „eine Hackn haben“ bedeutet? Nein, sagt Glauninger, „es gibt bestimmt einige, die das nicht verstehen – nicht nur Migrantinnen und Migranten, auch Menschen mit Deutsch als Muttersprache“.
Jeder Dialekt sei ein soziales Gruppensymbol, als solches halte er eine Gruppe zusammen und müsse daher auch ausgrenzen. „Potenziell ausgegrenzt werden aber nicht nur die, die den Dialekt nicht verstehen, sondern auch die, denen er nicht gefällt“, so Glauninger.

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Die standarddeutsche Morphologie wird durch „wennst“ unterbrochen, das typisch für bairische Dialekte ist. Die „Hackn“ ist ein Beispiel für den im Wienerischen häufigen Fall eines Femininums, das im Singular die Pluralendung -n bekommt.
„Oida, das war so deppert!“
Doch auch wenn viele Jüngere nicht mehr mit dem Wiener Dialekt aufgewachsen sind, heißt das nicht, dass sie ihn gar nicht mehr verstehen. Kinder und Jugendliche würden oft später Dialekt aufschnappen, so Glauninger, über das Internet, das Fernsehen oder über Musik. In der Wiener Jugendsprache gibt es deshalb durchaus einzelne Wörter und Phrasen im Dialekt.
Im Satz „Hast g’hört, was der Kevin g’macht hat? Oida, das war so deppert!“, werde „Oida“ etwa in jugendsprachlicher Funktion verwendet. „Dass es sich dabei um ‚Alter‘ in dialektaler Aussprache handelt, wissen viele Wiener Jugendliche gar nicht“, so Glauninger.
Seit den 1960ern wird „schön“ gesprochen
Auch laut der Phonetikerin Sylvia Moosmüller sprechen Wiener Jugendliche mehr Dialekt, als ihnen bewusst ist: „Wenn man jungen Leuten in der Straßenbahn zuhört, dann ist die Phonetik und Phonologie zwar standardnahe, Syntax und Morphologie sind aber zu großen Teilen dialektal.“ Wiener Dialekt, der „schön“ ausgesprochen wird, also?
Moosmüller, die sich in ihrer Forschung am Institut für Schallforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften viel dem Wiener Dialekt widmet, sieht in dieser Sprachform das Ergebnis von elterlichen Versuchen, Kindern die Standardsprache beizubringen, um ihnen bessere Aufstiegschancen in der Gesellschaft zu ermöglichen.
In den 1960ern und 1970ern begannen Eltern, ihre Kinder zum „Schönsprechen“ anzuhalten, auch wenn sie selbst Dialekt sprachen. Auffallend ist, dass dieser Trend zeitlich mit der Dialektwelle in den 1960ern zusammenfällt. Während das Wienerische im Austropop hochgehalten und romantisiert wurde, sei den Menschen vor dem Radio bewusst geworden, „Hoppala, ich red’ ja auch Dialekt“. Auch durch Fernsehserien wie „Ein echter Wiener geht nicht unter“, in der die Hauptfigur Mundl Sackbauer einen sehr stereotypisierten Wiener Dialekt spricht - so wie „man“ sich halt „einen echten Wiener“ vorstellt - habe man sich möglicherweise vom Dialekt abgrenzen wollen, so Moosmüller im Gespräch mit ORF.at
„Dialekt ist nichts Böses“
Im Gegensatz zu ländlichen Dialekten seien städtische Dialekte nun einmal negativ bewertet, nicht nur der Wiener Dialekt. Auch das positive Prestige des Wiener Dialekts in Musik, Fernsehen und Werbung sei völlig getrennt vom Dialekt im Alltag zu betrachten. „Im Alltag brauche ich einen Job und will aufsteigen. Da ist Dialekt kontraproduktiv“, so Moosmüller. Passiv würden auch viele Jüngere den Wiener Dialekt beherrschen und gar nicht wenige fingen an, ihn auch aktiv zu sprechen, wenn sie älter seien, „wenn sie ihren Platz im Leben gefunden haben und sich nicht mehr beweisen müssen“.
„Dialekt sprechen hat nichts mit schlampig sprechen zu tun“, sagt Moosmüller, er habe teilweise eine eigene Syntax, Morphologie und Phonologie. Die Phonetikerin sieht es auch als Aufgabe der Schulen, den Kindern und Jugendlichen zu vermitteln, dass Dialekte „nichts Böses“ sind.
„Ich bin eine Wienerin“
Dass die Grünen kaum Dialekt auf ihren Plakaten einsetzen, ist für den Meinungsforscher Christoph Hofinger vom Institut SORA naheliegend: „Nur ein kleiner Teil ihres Publikums spricht Dialekt.“ Dass ausgerechnet der Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou, deren Erstsprache Griechisch ist, auf einem Plakat Wiener Dialekt in den Mund gelegt wird, habe eine gewisse Ironie, so Hofinger im Gespräch mit ORF.at. Es sei aber schlüssig, weil es transportiert: „Ich bin eine Wienerin.“

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Mit „die Pappn“ gibt es auch hier das typische Femininum im Singular mit Pluralendung. „Pappn“ enthält außerdem wieder eine e-Apokope - im Gegensatz zu NEOS verzichten die Grünen auf den Apostroph.
Auch dass die ÖVP auf ihren Wahlplakaten keinen Dialekt einsetzt, sei schlüssig: „Das Zielpublikum, das Bürgertum, spricht keinen Dialekt.“ Ähnlich ist die Situation bei NEOS: Nur ein Plakat enthält Dialekt.
„Richtige Entscheidung für SPÖ und FPÖ“
Die Strategien von zwei Parteien fallen ganz besonders auf: Die FPÖ, die sich in der Vergangenheit in Wien häufig den Dialekt zunutze machte - etwa mit Reimen wie „Daham statt Islam“ - verzichtete in diesem Wahlkampf auf Slogans im Dialekt. Die SPÖ hingegen setzte besonders stark darauf.
„Die SPÖ und die FPÖ haben mit ihren Wahlplakaten die richtigen Entscheidungen getroffen“, so Hofinger, „die SPÖ für Dialekt, die FPÖ gegen Dialekt“. Die FPÖ wolle neue Wählerschichten erschließen, „sie will von den Stammtischen in die Führung der Stadt“. Die SPÖ hingegen sei bereits in der Führung der Stadt, „sie will zeigen, dass sie den Kontakt zu den Stammtischen nicht verloren hat“. Denn schließlich zeige ein Dialekt ja immer zwei Dinge: „Wer bin ich und wo will ich hin.“
Romana Beer, ORF.at
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