Spezialkräfte rüsten sich für Gegenoffensive
Nur wenige Stunden nach dem Beginn einer großangelegten Offensive sind die radikalislamischen Taliban in das Zentrum der nordafghanischen Provinzhauptstadt Kunduz vorgerückt und haben auf dem Hauptplatz ihre Flagge gehisst. Auch der Sitz der Provinzregierung wurde nach schweren Gefechten von den Islamisten erobert.
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Ein Vertreter der Regierung bestätigte, dass das Gebäude in die Hände der Islamisten gefallen sei. Taliban-Sprecher Sabihalla Mudschahid erklärte über den Kurzmitteilungsdienst Twitter, mit der Eroberung des Regierungssitzes und des Polizeihauptquartiers sei die gesamte Provinz in den Händen der Taliban. Mit Kunduz sei zudem erstmals auch eine „Hauptstadt einer Provinz unter unserer Kontrolle“. Die Taliban-Kämpfer rückten nun zudem auch Richtung Flughafen vor. Nach Darstellung der Provinzregierung von Kunduz landeten auf dem Flughafen mittlerweile aber Spezialeinsatzkräfte, die eine Gegenoffensive vorbereiteten.
Ungeachtet des schnellen Vorstoßes der Taliban zeigten sich Vertreter der Regierungstruppen und Sicherheitskräfte dennoch zuversichtlich, den Angriff zurückschlagen zu können.
Stadt „aus mehreren Richtungen angegriffen“
Wie der Polizeisprecher der Provinz Kunduz, Sayyed Darwar Hussaini am Montagnachmittag sagte, werden vier der fünf Polizeidistrikten der Stadt von den Taliban kontrolliert. Die in den frühen Morgenstunden gestartete Großoffensive sei weiter im Gange, die „schweren Kämpfe dauern an“, so Hussaini, dem zufolge die Stadt „aus mehreren Richtungen angegriffen“ wurde.

Grafik: APA/ORF.at
Die Taliban befinden sich in Afghanistan seit Monaten wieder auf dem Vormarsch. In der Provinz Kunduz nahmen sie erst im Juni den Distrikt Dasht-e-Arkhie ein, die anderen sechs Distrikte rund um die gleichnahmige Provinzhauptstadt sind seither umkämpft. Bereits im April warnte Vizegouverneur Hamdullah Daneshi vor einer Eroberung der gesamten Provinz durch die Taliban. Kunduz wäre auch die erste Provinzhauptstadt in Afghanistan, die seit dem Sturz des Taliban-Regimes Ende 2001 von den radikalislamischen Aufständischen erobert würde.
Hunderte Gefangene befreit
Laut einem Sprecher der afghanischen Regierung in Kabul sei die Eroberung der Stadt alles andere als unrealistisch. „Die Taliban haben inzwischen eine eigene schnelle Eingreiftruppe mit 600 Mann in Kunduz und sind sehr gut ausgerüstet.“ Diese Eingreiftruppe - eine solche Einheit unterhalten eigentlich nur hochprofessionelle Armeen - greife bei Gefechten an Brennpunkten in Kunduz ein. Ein Taliban-Kommandeur namens Mullah Usman in Kunduz-Stadt sagte: „Mehr als 1.000 Taliban nehmen an dieser Operation teil.“

APTN
Afghanische Einsatzkräfte auf einer Straße bei Kunduz
Augenzeugenberichten zufolge stürmten die Taliban auch das Provinzkrankenhaus mit seinen 200 Betten. Der britischen BBC zufolge wurde von den Taliban auch ein Gefängnis gestürmt und rund 500 Gefangene, darunter auch etliche Taliban-Mitglieder, befreit. Laut einem dpa-Reporter haben die Taliban auch wichtige Zufahrtsstraßen zur Stadt abgeschnitten.
Ein afghanischer Mitarbeiter einer internationalen Hilfsorganisation, der nicht namentlich genannt werden wollte, sagte der dpa: „Wir verstecken uns im Bad. Wir haben alle große Angst. Wir hören Schüsse rund 50 Meter entfernt von uns. Raketen fliegen durch die Gegend, und wir können Hubschrauber hören, die auf die Taliban schießen. Alle Ausländer sind zum Flughafen, die Einzigen, die noch hier sind, sind die Einheimischen.“
Auch Vizegouverneur Daneshi wurde laut Berichten von Augenzeugen vom Gouverneurspalast zum Flughafen gebracht, wo die afghanischen Sicherheitskräfte mehrere Stützpunkte unterhalten. Der Gouverneur hielt sich bereits vor dem Angriff der Taliban im Ausland auf. Medienberichten zufolge hätten am Montag die Vereinten Nationen ihr Personal aus Kunduz abgezogen. Das UNO-Gebäude sei danach von den Taliban geplündert worden.
Ehemaliges deutsches Afghanistan-Hauptquartier
Beobachter werten den Taliban-Einmarsch als neuen Meilenstein in dem seit fast 14 Jahren anhaltenden Aufstand der Taliban. Der Angriff auf Kunduz ist der zweite seiner Art in diesem Jahr: Im Juni hatten die afghanischen Streitkräfte den Vorstoß abgewehrt. Der NATO-Kampfeinsatz in Afghanistan endete im Dezember 2014. In Kunduz war bis vor zwei Jahren auch die deutsche Bundeswehr stationiert. Die deutschen Soldaten unterhielten bis zu ihrem Abzug in der Nähe des Flughafens ein Feldlager.
Die Bundeswehr war im Rahmen der internationalen Afghanistan-Mission ISAF für die Provinz Kunduz zuständig. Mitte 2012 wurde die Sicherheitsverantwortung schließlich an die afghanische Nationalarmee übergeben. Nach Beendigung des internationalen Kampfeinsatzes im Vorjahr sind NATO-Soldaten fast nur noch als Berater und Ausbildner im Land. Auch die Bundeswehr ist mit bis zu 850 Soldaten weiterhin in Afghanistan vertreten.
Wie eine Sprecherin des deutschen Außenministeriums nun sagte, seien die afghanischen Sicherheitskräfte weiterhin „grundsätzlich in der Lage, den Taliban entgegenzutreten“. Bisher sei es ihnen auch gelungen, die Großstädte des Landes unter ihrer Kontrolle zu halten. Zu der aktuellen Situation in Kunduz lägen der deutsche Regierung allerdings noch keine konkreten Erkenntnisse vor.
Zunehmende Gewalt
Die Gewalt in Afghanistan hat in den vergangenen Jahren wieder zugenommen. Derzeit verließen monatlich bis zu 100.000 Afghanen ihr Heimatland, berichtete die „Welt am Sonntag“ unter Berufung auf Sicherheitskreise. Die Zahl der Flüchtlinge sei seit Anfang des Jahres gestiegen, seitdem die afghanischen Behörden elektronisch lesbare Pässe ausgäben, mit denen eine Ausreise in den Iran möglich sei. Die Nachfrage sei enorm.
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