Steinmeier droht mit Zwangsquote
Vor dem Sondergipfel zur Flüchtlingskrise hat EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) vor einem Zerfall Europas gewarnt. „Europa ist in einem schlechten Zustand“, sagte er am Freitag angesichts des Streits über die Verteilung von Flüchtlingen auf die einzelnen EU-Staaten. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) drohte den Aufnahmeverweigerern mit einem Mehrheitsbeschluss.
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„Einige tun viel (...), andere verweigern sich. Ich finde das schändlich“, sagte Schulz. Er hoffe, dass man in den nächsten Tagen vorankomme. „Wir brauchen eine faire Verteilung von Flüchtlingen.“ Die EU-Staats- und -Regierungschefs wollen am Mittwoch über die Flüchtlingskrise beraten. Gegenwärtig kann man nach den Worten von Schulz in Echtzeit beobachten, wie ein Kontinent aussehe, in dem es keine Gemeinsamkeiten und keine Union gebe.
„Zustandsbeschreibung von Europa 2015“
Viele EU-Länder handelten nach eigenem Gusto. Es würden Maßnahmen für das heimische Publikum ergriffen, andere aber für die Probleme verantwortlich gemacht. Grenzen würden hochgezogen sowie Zäune und Mauern errichtet. Es werde über die Wiedereinführung nationaler Währungen gesprochen.
Überwunden geglaubte Stereotypen würden aus der Mottenkiste geholt und vergifteten das Klima. „Das ist die Zustandsbeschreibung von Europa 2015.“ Es wäre absurd, später erklären zu müssen, warum ein politisches und ökonomisches Gebilde, das einzigartig erfolgreich in der Menschheitsgeschichte gewesen sei, mit einem Mal zerfallen sei.
Steinmeier: „So funktioniert Solidarität nicht“
„Es kann nicht sein, dass Deutschland, Österreich, Schweden und Italien die Last allein tragen. So funktioniert europäische Solidarität nicht“, sagte Steinmeier der „Passauer Neuen Presse“ (Freitag-Ausgabe). „Und wenn es nicht anders geht, sollten wir ernsthaft erwägen, auch das Instrument der Mehrheitsentscheidung anzuwenden“, fügte er hinzu. Statt den Konsens aller Mitgliedsstaaten zu suchen, würden dann einzelne überstimmt. Die EU-Ländern konnten sich bisher nicht auf verpflichtende Quoten zur Verteilung der Flüchtlinge einigen.
Qualifizierte Mehrheit
Damit ein Beschluss mit qualifizierter Mehrheit angenommen wird, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: 55 Prozent der EU-Staaten müssen zustimmen, die zusammen mindestens für 65 Prozent der EU-Bevölkerung stehen. Normalerweise sind bei 28 EU-Staaten 16 Länder für eine Mehrheit nötig. Bei den Innenministern haben aber drei Staaten Ausnahmeregeln: Großbritannien, Irland und Dänemark. Nehmen sie nicht an der Abstimmung teil, läge die Mehrheit bei 14 Staaten.
Steinmeier wies darauf hin, dass viele Flüchtlinge falsche Vorstellungen über die Asylmöglichkeiten in Deutschland hätten. Dazu gehöre der Irrglaube, dass für jeden Kosovaren in Deutschland ein Arbeitsplatz reserviert sei, und Gerüchte im Nahen Osten, dass Deutschland alle Flüchtlinge zu sich holen wolle, um einen angeblichen Arbeitskräftemangel auszugleichen. Deshalb versuche das Außenministerium durch eine Informationsoffensive in den Medien und Sozialen Netzwerken über die tatsächliche Lage aufzuklären.
Besonders mit Blick auf den Winter kritisierte Steinmeier die Unterfinanzierung der Hilfsorganisation bei der Versorgung von Flüchtlingen als „völlig inakzeptabel“. „Wenn jetzt nicht alle ihren Teil der Verantwortung tragen, wird sich die Lage vor allem in den vom Bürgerkrieg in Syrien am meisten betroffenen Staaten weiter zuspitzen.“
Gabriel warnt vor Überforderung Deutschlands
Der deutsche Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) warnte vor einer Überforderung Deutschlands durch die Flüchtlingskrise. „Deutschland hilft - aber wer hilft jetzt mal Deutschland?“, fragte Gabriel in der „Bild“-Zeitung (Freitag-Ausgabe). Deutschland könne zwar vielen Menschen eine neue Heimat bieten - „aber nicht allen“. Deshalb müssten alle Menschen, die aus Ländern hierhergekommen seien, in denen es weder Krieg noch Verfolgung gebe, „unser Land wieder verlassen“, so Gabriel. „Selbst das starke Deutschland“ werde es nicht schaffen, jedes Jahr die Zahl von einer Million Flüchtlinge gut zu integrieren. „Deshalb muss Europa endlich helfen“, verlangte Gabriel.
Europa sei eine Wertegemeinschaft, die auch auf Mitmenschlichkeit und Solidarität beruhe. „Wer unsere Werte nicht teilt, kann auf Dauer auch nicht auf unser Geld hoffen“, drohte der Vizekanzler. „Wenn es so weitergeht, ist Europa in Gefahr. Mehr als durch die Finanz- oder Griechenland-Krise.“ Es sei notwendig, dass Europa die Flüchtlinge fair verteile.
Gabriel warnte auch vor einer wachsenden Verunsicherung in der deutschen Bevölkerung. Es dürfe keine Stimmung entstehen nach dem Motto: Für die Flüchtlinge sei Geld da, aber für die deutschen Bürger nicht. „Wir dürfen niemanden vergessen. Die Flüchtlinge nicht, aber auch nicht die anderen Menschen in Deutschland“, sagte Gabriel. Die Politik dürfe es nicht zulassen, dass die Menschen in Deutschland gegeneinander ausgespielt werden.
Löfven ortet „Verantwortungskrise“
Der schwedische Ministerpräsident Stefan Löfven forderte alle EU-Mitgliedsstaaten auf, Verantwortung in der Flüchtlingskrise zu übernehmen. Es sei nicht akzeptabel, dass Deutschland, Österreich und Schweden sowie noch ein, zwei andere Länder „die ganze Verantwortung schultern“, sagte der Sozialdemokrat. „Ich neige dazu, die Flüchtlingskrise als international zu bezeichnen, aber was wir in Europa haben, ist eine Verantwortungskrise“, so Löfven.
Schweden biete jedenfalls jedem, der komme, ein rechtsstaatliches Asylverfahren entsprechend internationalen Gesetzen. „Jeder, der triftige Asylgründe hat, kann bleiben, während die, die keine triftigen Asylgründe vorweisen können, auf eine ordentliche und humane Weise zurückgeschickt werden.“
Verständnis äußerte Löfven für die Einführung von Grenzkontrollen in Österreich und Deutschland. „Jedes Land hat das Recht - sogar im Rahmen des Schengen-Abkommens -, dass temporäre Grenzkontrollen eingeführt werden“, sagte Löfven. Es könne freilich nicht ausgeschlossen werden, dass sich unter den Flüchtlingen auch Leute mit verbrecherischen Absichten befänden, so Löfven. Daher sei es wichtig, geordnete und vernünftige Verfahren zu gewährleisten und eng mit der Polizei und dem schwedischen Geheimdienst zusammenzuarbeiten, um das zu verhindern.
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