„Brauchen DRINGEND SIM-Karten“
Tausende Flüchtlinge sind in den vergangenen Tagen auf den Wiener Bahnhöfen angekommen. Sie bekommen bis zu ihrer Weiterreise zu essen und zu trinken, warme Kleidung und einen Schlafplatz. Während am Westbahnhof mittlerweile die Caritas die Organisation der Flüchtlingshilfe übernahm, sind es am Hauptbahnhof nach wie vor Privatpersonen, die die Menschen auf der Flucht rund um die Uhr versorgen.
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„Der Hauptbahnhof ist das Spiegelbild zum Westbahnhof“, bringt es Julian Pöschl, einer der Hauptkoordinatoren von Train of Hope, im Gespräch mit ORF.at auf den Punkt: Während am Westbahnhof die Caritas mit Unterstützung von Privatpersonen hilft, hilft am Hauptbahnhof die Zivilgesellschaft mit Unterstützung von NGOs.

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Sobald Menschen am Bahnhof ankommen, werden sie von Train of Hope nicht nur erstversorgt, sondern auch herzlich empfangen
Innerhalb weniger Tage entstand am Ostende des Hauptbahnhofs eine professionelle Infrastruktur: Es gibt eine Kleiderausgabe, ein Spendenlager und einen Schlafbereich. In der Ankunftshalle 2 ist die Essensausgabe. Zeitweise gibt es auch einen Kinderspielbereich. Medizinische Notfälle werden in der mit 20 Betten ausgestatteten Erste-Hilfe-Station versorgt. Wer in Österreich bleiben möchte, bekommt am Hauptbahnhof auch juristische Hilfe. Für die anderen werden mit Geldspenden Fahrkarten zur Weiterreise gekauft.
Hauptquartier in der Fahrradgarage
Die nötigen Räume stellen die ÖBB für die neu gegründete Initiative Train of Hope zur Verfügung. „Fahrradgarage“ steht auf einem Schild neben der Ankunftshalle 2. Dort wird die Hilfe für die ankommenden Flüchtlinge organisiert und koordiniert - hauptsächlich via Facebook und Twitter. Immer wieder kommen Privatpersonen vorbei: Die einen wollen sich als Helfer anmelden, die anderen fragen, wo sie Geldspenden abgeben können. Auf mehreren Tischen stehen Notebooks, an den Wänden hängen unzählige Plakate und Zettel mit wichtigen Informationen und Kontakten.
Auf einem der Plakate steht eine To-do-Liste mit der Überschrift „Heute im ruhigen Moment:“. Bei der Frage, wann es denn einmal einen ruhigen Moment gebe, schmunzelt Daniel, einer der freiwilligen Helfer: „Das sind Sachen, die man dann in der Nachtschicht macht, wenn vielleicht weniger zu tun ist.“ Daniel wollte vergangene Woche eigentlich nur Sachspenden bringen, seitdem ist er täglich am Hauptbahnhof und arbeitet im Social-Media-Team.

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Auch diese Medikamente sind Spenden
Zu tun haben die freiwilligen Helferinnen und Helfer von Train of Hope genug. Ungefähr 20 sind im Kernteam. Zusätzlich kommen täglich Dutzende Privatpersonen zum Hauptbahnhof und melden sich zum Mithelfen oder bringen Spenden. Mit Funkgeräten kommunizieren die Helfer am Bahnhof zwischen Fahrradgarage, Spendenlager und Bahnsteigen. „Brauche dringend Dolmetsch Farsi auf Bahnsteig 10“ ist etwa vor der Kleiderausgabe durch ein Funkgerät zu hören - und sofort machen sich zwei junge Frauen mit Schildern, auf denen „Farsi, Arabi“ steht, auf den Weg zur Rolltreppe.
„Wir haben viiiiiieeel schmutzige Wäsche“
Die Kommunikation mit der Welt außerhalb des Hauptbahnhofs läuft über die Sozialen Medien. Über 20.000 Likes hat Train of Hope auf Facebook, über 4.000 Follower auf Twitter. „Wenn wir was brauchen, schicken wir es raus und es ist da“, sagt Daniel vom Social-Media-Team gegenüber ORF.at. In der Fahrradgarage sind immer einige Helfer dafür zuständig, die neuesten Updates zu posten: „Brauchen DRINGEND SIM-Karten, Handys und Aufladegeräte“, „Wir haben viiiiiieeel schmutzige Wäsche, die gewaschen werden will“ und mitten in der Nacht: „Liebe Nachteulen, wir bräuchten bitte jetzt sofort 5 - 10 Helfer*innen. Danke, ihr seid die Besten!“
Auf den Aufruf, dass Zahnbürsten gebraucht werden, kommt nur sechs Minuten später die Antwort: „Sind gleich bei euch mit ca. 50 Zahnbürsten.“ Auch auf die Frage, ob jemand in der Nähe vom Hauptbahnhof Menschen auf der Flucht bei sich zu Hause duschen lassen würde, gibt es sofort mehrere Zusagen. „Ohne Facebook und Twitter würde es nicht funktionieren“, sagt Julian Pöschl.

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Am Wiener Hauptbahnhof können Menschen auf der Flucht kurz durchatmen, bevor es weitergeht
Bilder von Menschen, die auf dem Weg von Ungarn nach Wien ihre Familie verloren haben, werden Hunderte Male geteilt. Einmal wurde das Team von Train of Hope über Facebook von Reisenden auf eine Flüchtlingsfamilie im Zug Richtung Hauptbahnhof aufmerksam gemacht, der Vater sitze im Rollstuhl und habe was im Rücken. Dank dieser Information standen dann am Bahnsteig in Wien schon Ärzte bereit. Was der Familienvater im Rücken hatte, waren Bombensplitter.
Gute Zusammenarbeit mit ÖBB und Polizei
Mit den Flüchtlingshelfern am Westbahnhof, in Nickelsdorf und auch im ungarischen Röszke ist das Team von Train of Hope in Kontakt. Werden etwa in Nickelsdorf dringend Kleidung und Decken für ankommende Flüchtlinge gebraucht, organisiert Train of Hope Transporte. Auch die Zusammenarbeit mit NGOs, den ÖBB und der Polizei funktioniert gut. Die Caritas übernahm mittlerweile die Betreuung einer Notschlafstelle mit 130 Betten beim Hauptbahnhof. Die Muslimische Jugend Österreich unterstützt die Essensausgabe.

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Organisationen und Privatpersonen bringen warmes Essen in großen Töpfen, auch Unternehmen spenden Lebensmittel und Mineralwasser
Auch die ÖBB-Mitarbeiter würden sehr viel helfen, erzählt Daniel: „Die ÖBB sind super in der Zusammenarbeit“. Auch mit der Polizei, die oft vorbeischaue, sei alles „easy“. Nur einmal habe es Aufregung gegeben, als plötzlich ein Haufen Polizisten dagewesen sei, um Menschen abzuholen. Diese seien in ein Schlafquartier gebracht worden, davor seien aber weder die Flüchtlinge noch das Team von Train of Hope informiert worden. „Sie hätten uns auch Bescheid sagen können“, sagt Daniel.
„Wir sparen der Regierung jeden Tag Tausende Euro“
Das Team von Train of Hope ist rund um die Uhr für die Flüchtlinge da. „Wir haben Schichten von zwölf bis 14 Stunden. Jeder, der es einrichten kann, ist ständig da“, sagt Pöschl. Er könne zurzeit als Freiberufler kein Geld verdienen, viele andere seien kurz davor, ihre Jobs zu kündigen und von ihrem Ersparten zu leben, um weiter helfen zu können.

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Julian Pöschl ist seit den Anfängen von Train of Hope vergangene Woche täglich am Hauptbahnhof
„Wir haben in drei Tagen was aufgestellt, von dem die Regierung behauptet, sie könnte es nicht“. Es könne nicht sein, dass die privaten Helferinnen und Helfer am Hauptbahnhof der Regierung jeden Tag Tausende Euro sparen. Die Gründung eines Vereins ist mittlerweile in Planung, aber „wir brauchen Unterstützung“, so Pöschl, „die Leute sollen für ihre Arbeit auch bezahlt bekommen.“ Es sei eine extreme psychische Belastung für die Helferinnen und Helfer, „wenn du hier den Problemen nachrennst und siehst, da oben interessiert sich niemand dafür“. Die Frage sei außerdem, wie lange die Unterstützung der Bevölkerung in diesem Ausmaß anhalte.
Die schönen Momente helfen, um weitermachen zu können, sagt Daniel, die Momente, in denen man sieht, wie glücklich jemand über eine SIM-Karte oder über ein Bahnticket ist. Und auch die schönen Momente im Team, wenn man einander in den Arm nimmt, in den kurzen Pausen, in denen das Adrenalin nachlässt und einem die Tränen kommen - „aber eigentlich wäre es doch der Job der Regierung, hier zu sein.“
Romana Beer, ORF.at
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