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Wenn Sacks den Fall Sacks schildert

Der britisch-amerikanische Neurologe und Autor Oliver Sacks ist mit seinen wissenschaftlichen Fallstudien und vor allem mit seinen auch verfilmten oder dramatisierten Büchern bekannt geworden. Schon schwerkrank, veröffentlichte er erst vor Kurzem seine Memoiren - und ging dabei mit sich selbst ungeschönt wie bei seinen Fallschilderungen ins Gericht.

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In dem Buch beschreibt sich Sacks etwa als Fall eines bekannten Neurologen und Autors, der 50 Jahre lang zweimal in der Woche zum Analytiker geht und diesem gegenüber, der das eigentlich gar nicht wissen will, bekennt, 35 Jahre lang keinen Sex gehabt zu haben, um sich dann im hohen Alter von 75 Jahren in einen anderen Schriftsteller zu verlieben. Das zwingt ihn, seine „Gewohnheiten lebenslanger Einsamkeit“ zu verändern, „nachdem ich mein ganzes Leben lang Distanz gewahrt hatte“.

Erstaunt über den eigenen Wandel

Sacks’ Memoiren mit dem Titel „On the Move - Mein Leben“ sind eine faszinierende Mischung von bemerkenswerten Patientenfallstudien über „normale“ und „unnormale“ Verhaltensweisen mit Geschichtenerzählungen über sein Leben und Menschen, denen er begegnet ist. So schildert er in berührenden Worten die späte dramatische Veränderung in seinem langen, wissenschaftlich und schriftstellerisch reichen und privat doch so lange einsamen Leben.

„Es war eine neue Erfahrung für mich, ruhig in den Armen eines anderen zu liegen, zu reden, Musik zu hören oder gemeinsam zu schweigen oder auch ‚richtige Mahlzeiten‘ zuzubereiten. Ich hatte bis dahin mehr oder weniger von Cornflakes gelebt oder von Ölsardinen, die ich direkt aus der Dose aß, im Stehen, in 30 Sekunden.“ Dabei hatte Sacks nach früheren Enttäuschungen beim Verlieben in „normale Männer“ beschlossen, „nie wieder mit irgendjemandem zusammenzuleben“.

Flucht aus der Heimat

Es sind nicht die einzigen zu Herzen gehenden privaten Bekenntnisse dieses beruflich so erfolgreichen Mannes. Als er sich als Jugendlicher im Elternhaus zu seinem Schwulsein bekennt, im England der 50er Jahre mit der Strafverfolgung Homosexueller, muss er sich von seiner eigenen Mutter anhören, dass er „ein Gräuel“ sei: „Ich wünschte, du wärst nie geboren worden.“ Es ist für den Jugendlichen wie ein Messerstich, der ein Leben lang schmerzen wird.

Buchcover von "On The Move" von Oliver Sacks

Rowohlt Verlag

Buchhinweis

Oliver Sacks: On the Move - Mein Leben. Rowohlt Verlag, Reinbek, 448 Seiten, 24,95 Euro.

Und doch bringt er später Verständnis für seine Mutter auf, die ihm doch als Kind abends oft stundenlang vorgelesen hat, weil sie bereits das Schicksal mit dem schizophrenen Bruder von Oliver zu schultern hatte. Aber es führte auch dazu, dass Oliver bald sein Elternhaus und England, beides für ihn zu eng geworden, verlässt, um in Kanada und schließlich in den USA sein Glück zu suchen, wo er bis zu seinem Tod lebte.

Kampf gegen „Spezialistentum“

Beruflich sollte er sein Glück in den USA tatsächlich finden und mit seinen medizinischen Fallstudien zur Hirnforschung Aufsehen erregen. Dass Sacks seine Erkenntnisse mit seinem Talent als Geschichtenerzähler verband und also auch populärwissenschaftlich schrieb, sollte ihm den Argwohn der Fachwelt einbringen, dafür aber auch die Aufmerksamkeit eines breiten, interessierten Publikums sichern. Seine Bücher wurden Bestseller.

Sacks gibt in seinen Erinnerungen auch Einblicke in den amerikanischen Krankenhaus- und Ärztealltag früherer Jahrzehnte. In New Yorker Pflegeheimen sah er „die vollkommene Unterjochung des Menschen durch medizinische Arroganz und Gerätetechnik“. In anderen Fällen berichteten Sacks viele Patienten, dass sie bei ihren Internisten, Augenärzten, Gynäkologen oder bei wem auch immer sie in Behandlung waren, nicht die erforderliche Aufmerksamkeit erhalten hätten.

„Das vermittelte mir einen Eindruck von dem, woran die amerikanische Medizin krankte: Sie lag immer häufiger in den Händen von Spezialisten. Die Allgemeinmediziner - die Basis der Pyramide - wurden immer weniger.“ Der Vater von Sacks, ein bis in die 90er Jahre seines Lebens aktiver britischer Hausarzt, hielt fast bis zuletzt an seinen Hausbesuchen von Patienten fest. Sie waren für ihn der „Kern“ der ärztlichen Tätigkeit, eher würde er alles andere aufgeben.

Jahrelanges „Doppelleben“

Auf dem Cover des Buches ist Sacks als Motorradfahrer auf einer schweren BMW zu sehen, eine seiner privaten Lieblingsrollen. Der leidenschaftliche Motorradfahrer führte jahrelang ein „Doppelleben“, wenn er seinen Arztkittel an Wochenenden mit der Lederkluft vertauschte und in die Weiten des amerikanischen Westens bis zum Grand Canyon davonraste, manchmal über 1.000 Kilometer am Stück. Es war auch die Zeit seines intensiven Drogenkonsums in den 60er Jahren in Kalifornien, von dem er sich später wieder befreien konnte.

Trotz seiner beruflichen Erfolge und der Hinwendung zu einem erfüllten Beziehungsleben in seinen letzten Jahren konstatierte Sacks, der sein Leben der Frage gewidmet hat, wie man trotz eines komplizierten Leidens ein erfülltes oder doch halbwegs „normales“ Leben führen kann, für sich selbst: „Es fiel mir nicht leicht zu glauben, dass irgendjemand meinetwegen besorgt war.“

Wilfried Mommert, dpa

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