Keine politischen Lösungen in Sicht
800 Menschen sind im April an einem Tag im Mittelmeer ertrunken, als das Schiff, das sie von der libyschen Küste nach Europa bringen sollte, untergegangen ist. Binnen 24 Stunden rief die EU ein Treffen mit 41 Ministern ein, ein Sondergipfel wurde geplant, eine Krisensitzung folgte der nächsten. Monate später ist die EU von einer gemeinsamen Linie in der Asylpolitik weiter entfernt denn je.
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Während die EU-Staaten seit Monaten über eine gleichmäßige Verteilung von Flüchtlingen diskutieren, werden Grenzzäune hochgezogen, sterben Menschen zusammengepfercht in Lkws und werden mit Tränengas daran gehindert, Grenzen innerhalb Europas zu überqueren.

Reuters/Yannis Behrakis
Menschen auf der Flucht an der griechisch-mazedonischen Grenze
Die dramatischen Nachrichten und Bilder vom Mittelmeer, aus Mazedonien und Jordanien, aus Traiskirchen und vielen anderen Orten, an denen Menschen auf der Flucht um ihr Überleben kämpfen, überschlagen sich dieser Tage. Gleichzeitig steigt die Zahl der Hassbotschaften in den Sozialen Medien. An Orten wie dem deutschen Weissach oder Nauen, wo Rechtsradikale geplante Flüchtlingsunterkünfte in Brand setzten, bahnt sich dieser Hass seinen Weg in die reale Welt.
Geografische Willkür
Vergleicht man Bilder dieses Sommers von der griechischen Insel Lesbos etwa mit Bildern von der britischen Insel Skye, lässt sich jede Idee von Europa als Solidargemeinschaft nur schwer aufrechterhalten. Mit knapp über 1.600 Quadratkilometern sind Lesbos und Skye gleich groß. Doch während auf Lesbos täglich verzweifelte Menschen von der nur wenige Seemeilen entfernten türkischen Küste aus ankommen, erlebt man am anderen Ende der EU, auf Skye, die dramatische Situation der Geflüchteten nur in den Fernsehnachrichten.

APA/AP/Visar Kryeziu
Lesbos im Sommer 2015
Während die Bewohner der deutschen Nordseeinsel Amrum ihre Strände diesen Sommer mit Tausenden Urlaubern teilten, strandeten auf der italienischen Insel Lampedusa Tausende Menschen nach einer lebensgefährlichen Flucht über das Mittelmeer. Amrum und Lampedusa sind mit 20 Quadratkilometern genau gleich groß, doch während die nordfriesische Insel vor dem deutschen Festland liegt, ist Lampedusa nur 300 Kilometer von der libyschen Küste entfernt.
„Unterschiedliche Vorstellungen von Solidarität“
Dublin III
Die Richtlinie sieht vor, dass jener Staat für das Asylverfahren zuständig ist, in dem Schutzsuchende erstmals EU-Boden betreten haben, und alle anderen EU-Staaten Asylsuchende in das Erstankunftsland „rückführen“ dürfen.
Dass die Dublin-Richtlinie Ungleichheiten schafft, weil sie Länder an den EU-Außengrenzen besonders stark in die Pflicht nimmt, kritisieren Asylrechtsexperten seit Jahren. Pläne der EU-Kommission, verpflichtende Quoten für die Verteilung einzuführen, scheiterten bisher allerdings am Widerstand mehrerer EU-Mitglieder wie Großbritannien, Polen und den baltischen Staaten. Derzeit erfolgt die Aufnahme der Flüchtlinge auf der Basis freiwilliger Zusagen.
ORF-Korrespondent Peter Fritz aus Brüssel
Peter Fritz in der ZIB2 darüber, dass auch Österreich zuletzt bei den Fragen der Verteilung nicht so mitspielen wollte, wie die EU-Kommission es gerne gehabt hätte.
Die Diskussion über eine Quote läuft seit Monaten, ohne Ergebnis. Länder, in die viele Geflüchtete kommen, wollen eine Quote, Länder, die weniger stark betroffen sind, wollen keine - mit Ausnahmen wie etwa Schweden, das bereits bisher pro Kopf die meisten Flüchtlinge aufnimmt. Finnlands Außenminister Timo Soini lehnte im Juni eine Quote mit den Worten ab: „Kein Gremium hat zu bestimmen, wie viele Menschen wir aufnehmen sollen.“ Die Flüchtlingsfrage sei am Ursprungsort der Probleme zu lösen. Kurz darauf schwenkte die finnische Regierung zwar um und stimmte einer Quote zu, allerdings „nur als vorübergehende Maßnahme und Notlösung“. Ungarns Premier Viktor Orban ließ bereits vor Monaten wissen: „Wir wollen, dass niemand mehr kommt und die, die schon hier sind, nach Hause gehen.“
„Wenn das eure Idee von Europa ist, dann könnt ihr sie behalten“, soll Italiens Regierungschef Matteo Renzi beim EU-Gipfel im Juni, der zu keinem konkreten Ergebnis führte, Diplomaten zufolge gesagt haben. Die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite sagte nach stundenlangen Debatten: „Ich glaube, wir haben etwas unterschiedliche Vorstellungen von Solidarität.“
Heidenau ist eine „Schande für Europa“
So, wie es im Augenblick in Europa „nicht funktioniert“, werde es nicht weitergehen, sagte Kilian Kleinschmidt am Donnerstag bei einem von der Caritas organisierten Pressegespräch in Wien. Der Deutsche ist Experte für humanitäre Hilfe und leitete bis zum vergangenen Jahr das Flüchtlingslager Saatari in Jordanien, mit momentan knapp über 80.000 Einwohnern das zweitgrößte der Welt. Ein erster Schritt für die Politik sei, nicht mehr Angst zu haben vor dem Bürger, der sich über die Flüchtlinge aufrege.
In Deutschland habe sich die Politik nach Randalen gegen Flüchtlingsheime im sächsischen Heidenau endlich geoutet. „Heidenau ist eine Schande für Europa, aber auch ein Wake-up-Call“, so Kleinschmidt. Was die EU jetzt brauche, sei Leadership und eine europäische Lösung. „Grenzzäune sind sinnlos“, so Kleinschmidt. Es gehe darum, die Grenzen kontrolliert aufzumachen und Arbeitsmarktvermittlung, Vermittlung von Studienplätzen und Lehrstellen für Migranten zu strukturieren. Die Politiker müssten aber auch die Ängste der Bürger Europas erreichen.
UNO: Legale Wege für Flüchtlinge öffnen
Für eine Öffnung der EU-Grenzen plädierte diese Woche auch Francois Crepeau, der UNO-Sonderberichterstatter für die Menschenrechte von Migranten. „Tun wir doch nicht so, als ob das, was die EU und ihre Mitgliedsstaaten unternehmen, tatsächlich funktionieren würde“, sagte er. „Zäune zu errichten, Tränengas einzusetzen und andere Formen der Gewalt gegen Migranten und Asylsuchende, Festnahmen und die Verweigerung des Zugangs zu Obdach, Nahrung oder Wasser sowie Drohungen und Hassreden werden Migranten nicht davon abhalten, nach Europa zu kommen oder es zu versuchen.“ Die europäischen Länder müssten legale Wege und ihre Arbeitsmärkte für Migranten öffnen, so Crepeau in einer Mitteilung der UNO.
„Machen wir die Grenzen auf, die Menschen kommen sowieso“, sagte auch der belgische Migrationsforscher Francois Gemenne kürzlich in einem Interview mit dem „Stern“. Es sei naiv zu glauben, dass sich die Situation mittels abgeriegelter Grenzen lösen lasse. Niemand würde sein Land verlassen, weil die Grenzen offen seien, so Gemenne, und niemand bleibe, weil die Grenzen zu seien. Offene oder geschlossene Grenzen hätten überhaupt keinen Einfluss darauf, ob Leute sich auf den Weg machen oder nicht - „der Unterschied ist allerdings, ob sie lebend ankommen oder tot.“
Ein Dollar pro Tag pro Flüchtling
Neben einer kontrollierten Grenzöffnung müsse man endlich anfangen, die Ursachen der Konflikte und der Armut aktiver zu bekämpfen, so Kleinschmidt. Den betroffenen Ländern müsse geholfen werden. Ihre Probleme gingen uns alle an, „nicht nur weil wir eine Weltgemeinschaft sind, sondern auch aus wirtschaftlichen Interessen“. In einer Welt, die im Überfluss lebt, sei Armut eine Verletzung der Menschenrechte, so Kleinschmidt.

ORF.at/Romana Beer
Kilian Kleinschmidt am Donnerstag bei einem Pressegespräch in Wien
Es brauche einen US-Dollar pro Tag, um einen Flüchtling zu ernähren. Das sei eine geringe Summe im Vergleich etwa zu den Militärausgaben. Die direkte Konsequenz aus der fehlenden Grundversorgung sei, dass Menschen in Kriegs- und Krisengebieten Überlebensstrategien suchen: „Mädchen werden früh verheiratet oder prostituiert, Kinder müssen arbeiten, die Jungs werden zum IS geschickt.“
Situation in Traiskirchen „unverständlich“
Angesprochen auf die Situation im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen sagte Kleinschmidt, es sei vollkommen unverständlich, dass in einem Land wie Österreich jemand auf dem Boden schlafen muss. „Wir müssen begreifen, dass es um Menschen geht. Es gibt nichts Entwürdigenderes, als monate- oder jahrelang in Massenunterkünften zu leben“, so Kleinschmidt, der vergangene Woche auch Gespräche mit dem Innenministerium führte „darüber, wie Österreich mit Flucht umgeht“.
Christoph Schweifer, der die Auslandshilfe der Caritas Österreich leitet, sprach von einer humanitären Katastrophe: „Menschen hungern und dursten zu lassen, ihnen medizinische Hilfe zu verwehren und Kinder im Freien schlafen zu lassen ist unterlassene Hilfeleistung und keine Flüchtlingspolitik.“ Nur zwei Stunden nach dem Gespräch wurde bekannt, dass auf der Ostautobahn (A4) im Burgenland ein Lkw entdeckt wurde, in dem 71 Menschen, die auf der Flucht waren, qualvoll gestorben waren.
Suche nach „europäischem Ansatz“ geht weiter
Die Teilnehmer der Westbalkan-Konferenz, die am Donnerstag in Wien stattfand, zeigten sich ob dieser Nachricht bestürzt. Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ), die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini sprachen sich im Anschluss an die Konferenz einmal mehr für eine faire Quote zur Aufnahme von Flüchtlingen aus. Merkel mahnte zudem, „das Thema Migration im europäischen Geist, im Geist der Solidarität anzugehen und Lösungen zu finden“.
Ähnlich äußerte sich EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, als er sich diese Woche in mehreren europäischen Tageszeitungen an die Bevölkerung wandte: „Wir brauchen einen starken europäischen Ansatz.“ Es liege in der Konsequenz gemeinsamer Außengrenzen, dass „wir die Mitgliedsstaaten an der vordersten Front nicht alleinlassen, sondern die Herausforderungen der Migration solidarisch bewältigen“, so Juncker. Wann, wie und von wem „die Herausforderungen der Migration“ solidarisch bewältigt werden, bleibt vorerst offen.
Romana Beer, ORF.at
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