Themenüberblick

Vorrang für die Rücksicht

Die letzten Pflastersteine sind gelegt. Die umgestaltete Wiener Mariahilfer Straße ist in Vollbetrieb, und damit sind es auch beide Begegnungszonen. Bereits seit geraumer Zeit wird dort deutlich, dass sich das Kräfteverhältnis zwischen den Verkehrsteilnehmern neu austariert. In der Schweiz, wo Begegnungszonen schon lange existieren, entpuppte sich das Konzept als besonders praktikable Lösung.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

Es sei auffällig, wie viel in der Mariahilfer Straße los ist, beschreibt Markus Gansterer vom Verkehrsclub Österreich (VCÖ) die nunmehrige Situation in der größten Einkaufsstraße des Landes mit ein klein wenig Erstaunen. Erhebliche Menschenmengen an Werktagen wie an Wochenenden zeugen davon, dass sich der Bereich der Fußgängerzone zum funktionierenden städtischen Areal entwickelt hat. Eine ausgestorbene Einkaufsstraße, wie sie von etlichen Geschäftstreibenden erwartet wurde, sieht anders aus.

Menschen auf der Wiener Mariahilferstraße

ORF.at/Christian Öser

Die neue Begegnungszone in Wien wird angenommen

Was entlang der neu gestalteten 1,8 Kilometer insbesondere ins Auge sticht: Auch im Bereich der Begegnungszonen, abseits der Fußgängerkernzone zwischen Andreasgasse und Kirchengasse, erobern sich die Fußgänger den Großteil der Verkehrsfläche - auch wenn sie sich den Platz mit Autos und Radfahrern teilen müssen. Markus Gansterer sieht gerade in diesem regen Aufeinandertreffen einen entscheidenden Faktor: „Damit eine Begegnungszone funktioniert, sollte auf den Verkehrsflächen auch viel los sein. Hier greift ein Mischprinzip.“

Noch keine Erfahrungswerte hierzulande

Längerfristige Erfahrungswerte, wie sich das Verhalten in Begegnungszonen im Lauf der Zeit entwickelt, gibt es in Österreich noch keine – obwohl mittlerweile in fast allen Bundesländern solche Begegnungszonen errichtet wurden. Die gesetzliche Grundlage in Form einer Novelle der Straßenverkehrsordnung existiert in Österreich erst seit dem Jänner 2013.

Er empfinde die jetzige Situation noch als ein Herantasten, lautet Gansterers Einschätzung des Fußgängerverhaltens in den heimischen Begegnungszonen. Nach oben hin ist Luft: „Ich glaube eher, dass sich die Leute noch zu wenig trauen.“ Denn in der Begegnungszone der Mariahilfer Straße ist es auch legitim, die Fahrbahn in Längsrichtung entlang zu gehen, sofern dabei der motorisierte Verkehr nicht vorsätzlich blockiert wird.

Eidgenossen als Pioniere

Die Vorreiterrolle bei Begegnungszonen in Europa nimmt die Schweiz ein. Kurz nach der Jahrtausendwende übte sich die Politik in einem progressiven Akt und schuf die rechtliche Grundlage für diese Gleichberechtigung der Verkehrsteilnehmer. Die Beschränkung für Auto- und Radfahrer auf 20 Stundenkilometer, das prinzipielle Parkverbot und der Vorrang für Fußgänger, damit diese jederzeit die Verkehrsfläche überqueren können, wurden zunächst in kleinen Städten erprobt.

Die erste Begegnungszone im westschweizerischen Burgdorf war Produkt der Neuplanung des Radverkehrs. Sie entstand bereits 1996 auf rechtlicher Basis einer Spielstraße. Und die neu geschaffenen Zonen wurden zum Erfolgsmodell. Der damals in der Schweiz geläufige Begriff der Fußgängervortritt-Zonen umreißt wesentlich deutlicher, dass hier als Grundprinzip die Achtsamkeit aller gefragt ist und der Fußgänger den Mittelpunkt des Verkehrsgeschehens bildet.

Steigende Frequenzen

Damals herrschten in der Schweiz allerdings ähnliche Ängste wie in Wien, wie es Dominik Bucheli von der Zürcher Fachorganisation Fußverkehr Schweiz beschreibt: „Es gab anfänglich ein bisschen Missmut, weil Gewerbetreibende um ihre Umsätze fürchteten. Nach dem Umbau sind die Frequenzzahlen aber stark in die Höhe geschossen.“

Linie 13A auf der Wiener Mariahilferstraße

ORF.at/Christian Öser

Auch der Bus scheint in der Mariahilfer Straße kein Problem darzustellen

Die Debatte rund um die Mariahilfer Straße habe sich herumgesprochen, deshalb war er schon vor Monaten in Wien, um sich ein Bild zu machen, erzählt Bucheli. Auch für ihn war auffällig, wie viel hier los ist – man brauche nicht darüber diskutieren, ob die Mariahilfer Straße funktioniert: „Ich habe in Wien mit vielen Menschen gesprochen - bis auf die Taxifahrer scheinen jetzt ja auch alle mit der Situation glücklich zu sein.“

Unspektakulärer Busbetrieb

Für den Schweizer Verkehrsexperten war vor allem die hitzig betriebene Diskussion über den Verlauf der Buslinie 13A, die zunächst durch die Fußgängerzone geführt wurde und nun durch die Begegnungszone fährt, bemerkenswert: „Eine Buslinie durch eine Fußgängerzone ist eine vollkommen unspektakuläre Sache, die in der Schweiz vielfach praktiziert wird. Erfahrungswerte zeigen, dass Fußgänger Bussen viel bereitwilliger Platz machen als anderen Fahrzeugen.“

Auch Bucheli spricht davon, dass eine gewisse Grundfrequenz an Verkehr das Erfolgsrezept einer jeden Begegnungszone sei: „Es braucht ein sinnvolles Verhältnis zwischen motorisierten und nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern, damit Begegnungszonen gut funktionieren und ein steter Verkehrsfluss entsteht.“

Hohe Sicherheit für alle

Missverständnisse in Hinsicht auf das korrekte Verhalten der Verkehrsteilnehmer seien in den Schweizer Begegnungszonen keine zu beobachten gewesen, so Bucheli: „Die Regelungen für die Schweizer Tempo-30-Zonen haben viel mehr Verwirrung gestiftet.“ Direkter Beweis für die friedliche Koexistenz der Verkehrsteilnehmer ist die Unfallbilanz in den Schweizer Begegnungszonen. „Hier lassen sich keine klaren Aussagen treffen, weil kaum Unfälle passieren. Wenn, dann sind es kleine Blechschäden an Fahrzeugen - und das meistens zu Randzeiten, wenn in den Begegnungszonen wenig los ist.“

Johannes Luxner, ORF.at

Links: