Baumeister der deutschen Ostpolitik
Der deutsche SPD-Politiker Egon Bahr ist im Alter von 93 Jahren gestorben. Das bestätigte am Donnerstag ein Parteisprecher auf Anfrage der dpa. Bahr gilt als Baumeister der deutschen Ostpolitik.
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Bahrs Name ist mit den unermüdlichen Bemühungen verbunden, die Beziehungen zwischen der BRD und der DDR zu normalisieren. Die Karriere des 1922 im thüringischen Treffurt geborenen SPD-Politikers war eng mit dem des ersten deutschen SPD-Bundeskanzlers Willy Brandt verknüpft. Seine politische Laufbahn begann der Journalist 1960 unter Brandt, der damals noch Regierender Bürgermeister von Westberlin war. Für Brandt sollte er einer der wichtigsten Ratgeber und Vertrauten werden.

AP/Fritz Reiss
Der KPdSU-Chef und sowjetische Staatschef Leonid Breschniew mit dem deutschen Kanzler Willy Brandt und Egon Bahr (ganz rechts) auf einer Bootsfahrt auf der Krim im September 1971
In zahlreichen Ämtern tätig
Mit Moskau und Warschau verhandelte Bahr über Verträge zu einem Gewaltverzicht und zur Normalisierung der Beziehungen. Außerdem suchte er die Annäherung an die DDR, um die deutsch-deutschen Verhältnisse zu verbessern. Er wirkte unter anderem als Staatssekretär im deutschen Bundeskanzleramt. Von 1966 bis 1969 war Bahr Leiter des Planungsstabes im Auswärtigen Amt und dort maßgeblich mitverantwortlich für die Neugestaltung der Ostpolitik. Er wirkte an der Ausarbeitung und den Verhandlungen der Warschauer (1970) und Moskauer (1971) Verträge mit. Im Jahr 1972 wurde er bis zum Rücktritt Brandts 1974 Minister für besondere Aufgaben.
Politik der kleinen Schritte als Credo
Schon früh formulierte Bahr sein außenpolitisches Motto „Wandel durch Annäherung“. Darin verlangte er, dass der Westen in Bezug auf den Osten die „Politik der Stärke“ aufgibt, und beschwor eine Politik der kleinen Schritte. Das Ziel der deutschen Wiedervereinigung verlor er dabei nie aus den Augen. Bahr ging es auch um die „Anerkennung der Realitäten“ und damit um die Anerkennung der DDR. Das brachte ihm viel Kritik ein, bedeutete das doch eine Trendwende in den Beziehungen zu Ostberlin.
Transitabkommen galt bis zur Wende
Ein großer Schritt zur Verbesserung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten war das 1972 von Bahr verhandelte Transitabkommen, das bis 1989 galt. Endlich waren zwischen den beiden deutschen Staaten wieder Besuche möglich, ohne dass die Menschen mit Repressalien rechnen mussten. „Das Transitabkommen befreite Berlin von jahrzehntelanger Krisen- und Druckanfälligkeit“, schrieb Bahr in seinen Memoiren.
Erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg war eine Rechtsgrundlage für den zivilen Reiseverkehr geschaffen worden. Ein weiterer Höhepunkt war die Unterzeichnung des Grundlagenvertrages im Dezember 1972. Die DDR wurde darin von Bonn erstmals als selbstständiger Staat anerkannt. Als Bahr bei der Unterzeichnung in Ostberlin nach seinen Erwartungen gefragt wurde, antwortete er: „Bisher hatten wir keine Beziehungen, jetzt werden wir schlechte haben, und das ist ein Fortschritt.“
Nach dem Rücktritt von Willy Brandt 1974 wurde er von Helmut Schmidt als Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit erneut in die Regierung berufen. 1976 schied er aus, blieb aber Abgeordneter im deutschen Bundestag. Intensiv widmete sich Bahr außenpolitischen Analysen und leitete viele Jahre das renommierte Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. Von 1976 bis 1981 war Bahr Bundesgeschäftsführer seiner Partei.
Trauer und Würdigung in SPD
„Mit großer Bestürzung und tiefer Trauer haben wir in der letzten Nacht vom Tode Egon Bahrs erfahren", sagte SPD-Chef Sigmar Gabriel am Donnerstag der dpa. Die deutsche Sozialdemokratie und viele Menschen in Europa trauerten um einen "mutigen, aufrichtigen und großen Sozialdemokraten, den Architekten der deutschen Einheit, Friedenspolitiker und Europäer“, sagte Gabriel. Bahr sei ein großer Vordenker mit einzigartiger politischer Tatkraft gewesen. "Er vertraute wesentlich auf die Macht der Freiheit und die Kraft des Gesprächs, das war die Grundlage für den „Wandel durch Annäherung"“, sagte Gabriel.
Bis zuletzt sei Bahr stets ein loyaler und unermüdlicher Ratgeber der SPD gewesen. „Wir werden seine analytische Brillanz, seine Rationalität und Leidenschaft, aber auch sein Temperament und seinen liebenswürdigen Humor sehr vermissen“, betonte Gabriel. „Ich werde Egon auch als Freund und Ratgeber sehr vermissen." Bahr war erst Ende Juli noch in Moskau und hatte sich dort zusammen mit dem Ex-Sowjetpräsidenten Michail Gorbatschow für ein Ende der Entfremdung zwischen Deutschland und Russland in der Ukraine-Krise ausgesprochen.
Schmidt: Bahr wird fehlen
Der deutsche SPD-Altkanzler Schmidt (SPD) würdigte Bahr als unermüdlichen Kämpfer für den Frieden. Der "Bild“-Zeitung (Freitag-Ausgabe) sagte Schmidt: „Egon Bahr wird der deutschen Außenpolitik fehlen. Und mir persönlich auch.“ Bahr habe zu seinen engen und verlässlichen Begleitern im politischen Leben gehört. „Gemeinsam mit Richard von Weizsäcker und Hans-Dietrich Genscher haben wir 2009 das ‚deutsche Quartett‘ für die atomwaffenfreie Welt ins Leben gerufen. Für Egon Bahr war die Friedenspolitik ein Herzensanliegen, für das er unermüdlich im Einsatz war“, sagte Schmidt.
Bahr habe gewusst, „dass der Frieden nicht selbstverständlich ist, und dass sich Deutschland um gute nachbarschaftliche Beziehungen zu seinen Nachbarn bemühen muss“. Bis zuletzt habe sich dieser um gute Beziehungen mit Russland bemüht: „Die er mit Recht als eine der Voraussetzungen für den Frieden in Europa sah“, betonte Schmidt.
Gauck: „Deutschen kann Geschichte gelingen“
Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck würdigte Bahr als „bedeutenden politischen Akteur der deutschen Nachkriegsgeschichte“. In einem Schreiben an die Witwe Adelheid Bahr heißt es: „Der Lebensweg Ihres Mannes hat gezeigt, dass uns Deutschen Geschichte gelingen kann.“ Als einer der Architekten der bundesdeutschen Ostpolitik habe Bahr das Verhältnis zur DDR, zur Sowjetunion und zu den übrigen Ländern des Warschauer Paktes gestaltet und geprägt.
Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) bezeichnete Bahr als „Freund und Vorbild“. Nur wenigen Politikern sei es vergönnt, mit einer Idee die Welt zu verändern und noch zu erleben, wie sie Wirklichkeit werde. "Bei Egon Bahr war es so - seine Vorstellungen von einer radikal neuen Ostpolitik und vom „Wandel durch Annäherung" haben buchstäblich den Lauf der Geschichte verändert und die deutsche und europäische Einigung erst möglich gemacht.“
Gysi: „Großer deutscher Politiker“
Der Vorsitzende der deutschen Linken-Fraktion, Gregor Gysi, sagte: „Mit Egon Bahr geht ein großer deutscher Politiker.“ Zunächst - wie er ihm selbst gesagt habe - ein „Kalter Krieger“, sei er schließlich „für geregelte vernünftige Beziehungen zur Sowjetunion, zu ganz Osteuropa einschließlich der DDR“ eingetreten. „Wandel durch Annäherung war sein Ziel, mehr Wandel, als wir alle erlebt haben, war letztlich nicht zu erreichen. Schon seit 1990 suchte er auch das Gespräch mit meiner Partei, mit mir.“ FDP-Chef Christian Lindner twitterte: „Die neue Ostpolitik war ein Verdienst von Egon Bahr. Die Freien Demokraten trauern um einen großen Mann.“
SPÖ-Bundesparteivorsitzender, Bundeskanzler Werner Faymann zeigte sich ebenfalls tief betroffen. „Egon Bahr war eine prägende Persönlichkeit der Sozialdemokratie, dessen politisches Lebenswerk weit über Partei- und Ländergrenzen hinweg Anerkennung und Würdigung erfahren hat“, so Faymann. Mit Bahr verliere die sozialdemokratische Familie einen großen Mitstreiter und Friedenspolitiker, betonte Faymann.
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