Themenüberblick

„Für manche Leute ist das nichts“

Arbeit rund um die Uhr und auch an Wochenenden, auf Rechnern vorinstallierte Werkzeuge zum Anschwärzen von Kollegen: Ein Bericht der „New York Times“ („NYT“) wirft ein schlechtes Licht auf die Arbeitsbedingungen von Managern beim Onlineversandhändler Amazon. Viele Mitarbeiter halten dem unmenschlichen Druck nicht lange stand - und verlassen das Unternehmen nach kaum mehr als einem Jahr wieder.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

Mehr als 100 ehemalige und aktuelle Mitarbeiter von Amazon wurden von der „NYT“ befragt, viele unter dem Schutz der Anonymität. Das Bild, das sie zeichnen, ist erschütternd. „Ich habe fast jede Person, mit der ich zusammengearbeitet habe, weinen gesehen“, berichtete etwa Bo Olsen, der zwei Jahre lang in Amazons Buchvertrieb tätig war. Ex-Kollegen von Olsen berichteten von Marathonkonferenzen am Ostersonntag und nächtlichen E-Mails samt SMS-Aufforderung, diese gefälligst zu beantworten.

Die Konkurrenz beim Onlineversandhändler scheint gewaltig zu sein. Allein in der Amazon-Zentrale in der US-Westküstenmetropole Seattle könnten bald bis zu 50.000 Menschen beschäftigt sein. Die Mitarbeiterfluktuation ist hoch. Laut einer von der auf Einkommenserhebung spezialisierten US-Firma PayScale 2013 durchgeführten Erhebung hält es der durchschnittliche Amazon-Manager weniger als ein Jahr im Unternehmen aus. Ein Umstand, den Amazon nicht bestreitet. Nur 15 Prozent der Mitarbeiter seien fünf Jahre nach ihrer Vetragsunterzeichnung noch in der Firma, teilte Amazon der „NYT“ mit.

Ineffizienten Mitarbeitern droht Jobverlust

Wochenarbeitszeiten von 80 bis 85 Stunden stehen bei Amazon offenbar an der Tagesordnung. Viele ehemalige Mitarbeiter berichteten gegenüber der „NYT“, auch an Wochenenden und sogar im Urlaub Arbeiten erledigt zu haben. Zudem werde die Konkurrenz zwischen den Mitarbeitern gezielt gefördert. Insider erzählten der „NYT“ von einem vorinstallierten Bewertungssystem, mit dem Mitarbeiter ihren Vorgesetzten in anonymisierten E-Mails Details zur Arbeitsleistung ihrer Kollegen mitteilen können.

Die anonymen Berichte fließen angeblich in die Bewertung der Effizienz der Mitarbeiter ein. Diese werde einmal jährlich bei einer Sitzung des Managements genau geprüft. Wer im Effizienzranking als nicht gut genug befunden wird, der wird gekündigt. Amazon sei einer der Vorreiter, was den Einsatz von Daten bei der Personalpolitik anbelangt, resümierte die „New York Times“. Das mache den Konzern „flinker“ und „produktiver“, bedeute für Mitarbeiter aber ein raueres Betriebsklima, in dem Fehler nicht verziehen würden.

Ehemalige Mitarbeiter beklagen die schlechte Stimmung im Unternehmen. Es sei einem das Gefühl gegeben worden, dass die erledigte Arbeit nicht gut genug ist. „Amazon ist der Ort, wo sich sogar Over-Achiever schuldig fühlen“, resümierte Noelle Barnes, die neun Jahre lang in der Marketingabteilung arbeitete.

Arbeitskultur „fördert Mobbing“

Die Vorwürfe gegen Amazon sind zwar nicht neu, kritisiert wurden bisher aber eher die Arbeitsbedingungen in den Lagerhallen des Versandriesen. Erst im Juni hatten Hunderte Amazon-Bedienstete in Deutschland die Arbeit niedergelegt. Die Mitarbeiter würden „verlässliche und gute Arbeitsbedingungen verlangen und wollen nicht mehr der Willkür eines Arbeitgebers ausgeliefert sein“, hieß es seitens der Gewerkschaft. Erst zuletzt habe Amazon den Urlaubsanspruch um einen Tag gekürzt. Auch in Polen forderten Gewerkschafter einen höheren Stundenlohn und bessere Arbeitsbedingungen für Beschäftigte.

Im Vorjahr wurde Amazon-Gründer Jeff Bezos auf dem Weltkongress des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB) von den 20.000 Delegierten zum „schlimmsten Chef des Planeten“ gewählt. Das Geschäftsmodell von Amazon sei „nicht nachhaltig und basiert darauf, seine Mitarbeiter als inhumane Roboter zu behandeln“, sagte Philip Jennings, Generalsekretär des internationalen Gewerkschaftsdachverbands UNI Global Union, damals laut der Tageszeitung „Die Welt“. Es gebe keinerlei feste Vereinbarungen über Pausen und Arbeitsgeschwindigkeit. Die Arbeitskultur des Unternehmens fördere „Mobbing und Schikanieren“.

„Für manche Leute ist das nichts“

Für Amazon scheint sich der harsche Umgang mit seinen Managern dennoch bezahlt zu machen. Der Onlineversandhändler macht mittlerweile einen Umsatz von fast 89 Milliarden Dollar (80 Mrd. Euro) pro Jahr und beschäftigt weltweit 165.000 Mitarbeiter. Das Wirtschaftsmagazin „Forbes“ reiht Bezos auf der Liste der reichsten Menschen der Welt auf Platz 15.

Tatsächlich verteidigten selbst Ex-Mitarbeiter den hohen Konkurrenzdruck. Bei Amazon zu arbeiten sei „wie eine Droge“ gewesen, beschrieb es Diana Vaccari der „NYT“. Vaccari leitete von 2008 bis 2014 am Firmenstammsitz die Abteilung für Grußkarten. Einmal habe sie vier Tage lang nicht geschlafen. Um die Arbeit zu bewältigen, habe sie sogar einen Freelancer in Indien bezahlt. „Die Projekte waren meine Babys“, erklärte Vaccari.

Auch relativ niederrangige Mitarbeiter könnten im Unternehmen viel erreichen, so Ex-Mitarbeitern. Amazons Lieferdrohnenprojekt etwa geht auf die Idee des einfachen Ingenieurs Daniel Buchmueller zurück. „Wir sind ein Unternehmen, das große, innovative, bahnbrechende Dinge schaffen will“, so Amazon-Personalchefin Susan Harker, „für manche Leute ist das nichts“. Und einige Ex-Mitarbeiter führen den Erfolg Amazons auf seine rigorose Personalpolitik zurück. Ohne den „gezielten Darwinismus“ wäre das Unternehmen nicht dorthin gekommen, wo es heute steht, so Robin Andrulevich, ehemals leitende Angestellte in der Amazon-Personalabteilung.

Krebs als „private Schwierigkeit“

Die Schattenseite: Wer nicht alles für das Unternehmen gibt, bleibt auf der Strecke. Die „NYT“ berichtete von einer Mitarbeiterin, die nur einen Tag nach einer erlittenen Fehlgeburt wieder auf Dienstreise fuhr. Einer Mitarbeiterin, die an Schilddrüsenkrebs erkrankt war, wurde nach ihrer Rückkehr aus der Therapie eine schlechte Arbeitsleistung attestiert. Und einer Mitarbeiterin mit Brustkrebs sei verklausuliert mit der Kündigung gedroht worden, da „private Schwierigkeiten“ dem Erreichen ihrer Arbeitsleistung im Weg gestanden seien.

Bezos wies Kritik zurück

Amazon-Gründer Bezos hat den kritischen Bericht über die Arbeitsbedingungen beim weltgrößten Onlinehändler zurückgewiesen. „Der Artikel beschreibt nicht das Amazon, das ich kenne“, betonte Bezos in einer E-Mail an die Mitarbeiter, die am Montag von mehreren Technologieblogs veröffentlicht wurde. Der Bericht vom Wochenende stelle einzelne Geschichten über „schockierend gefühllose Managementpraktiken“ in den Vordergrund, schrieb Bezos in seiner E-Mail.

„Ich bin überzeugt, dass jeder, der bei einem Unternehmen arbeitet, wie es in der ‚New York Times‘ beschrieben wurde, wahnsinnig wäre, zu bleiben. Ich weiß, dass ich so ein Unternehmen verlassen würde“, schrieb Bezos. Zugleich rief er die Mitarbeiter auf, wenn ihnen solche Fälle bekanntwürden, dies an die Personalabteilung oder direkt an ihn persönlich zu melden.

Steve Jobs’ „Psychospiele“

Amazon ist nicht der einzige US-Technologiekonzern, der wegen seiner Härte gegenüber Mitarbeitern am Pranger steht. Im Mai geriet Tesla-Gründer Elon Musk in die Kritik. Ein Mitarbeiter hatte einen Firmenevent verpasst, um bei der Geburt seines Kindes dabei zu sein. „Das ist keine Ausrede. Ich bin extrem enttäuscht. Du solltest dir überlegen, wo deine Prioritäten liegen. Wir verändern hier die Welt und schreiben Geschichte und du bist entweder dabei oder nicht“, schrieb Musk dem nicht namentlich Genannten in einer E-Mail, berichtete das Magazin „Business Insider“.

Bekannt ruppig war auch der Umgangston bei Apple. Ehemalige Mitarbeiter beklagten den „iCult“ und die „Psychospiele“ des mittlerweile verstorbenen Firmengründers Steve Jobs. Seine Vorgesetzten hätten ihn im 15-Minuten-Takt nach seiner Anwesenheit gefragt, beklagte ein ehemalige Apple-Angestellter im April gegenüber der „Huffington Post“. Nicht einmal bei familiären Notfällen sei es den Beschäftigten gestattet gewesen, der Arbeit fernzubleiben.

Links: