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Zwischen Google-Doodle und Gummibären

Ein Wollhandschuh formt sich schlingernd zum Google-Schriftzug, während sein Ende erst fertiggestrickt wird, eine App lässt Tiere durch Berührung zum Leben erwachen, ein Strichmännchen wird beinahe von einem Krokodil aus grünen Gummibärchen verspeist: Zahlreiche solcher Werke sind ab Mittwoch in der Ausstellung „Christoph Niemann. Unterm Strich“ im Kunstblättersaal des Wiener Museums für angewandte Kunst (MAK) zu sehen.

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170 Arbeiten des Künstlers hängen dicht aneinander an den Ausstellungswänden des kleinen Raumes, digital und analog, gerahmt oder einfach als Blatt an die Wand gepinnt. Jede für sich erzählt bereits eine Geschichte, doch häufig formieren sie sich zur Serie und offenbaren so erst den ganzen Facetten- und Einfallsreichtum des deutschen Künstlers.

Eindrücke der Niemann Ausstellung im MAK

MAK/Georg Mayer

Multimediales Geschichtenerzählen Marke Niemann

Etwa in der illustrierten Kolumne „Nur ankommen ist schöner“, gezeichnet 2010 für die „New York Times“, „ein visuelles Tagebuch über einen Flug von New York nach Berlin (mit Zwischenstopp in London)“. Niemann notierte darin seine Bemerkungen zum Kampf um die Armlehne zwischen den Sitzen ebenso wie zur Auswahl des Essens (Pasta oder Hendl) und zu den geschwollenen Füßen kurz vor der Landung.

Kunstvolle Lust an der Einfachheit

Daneben ist in der Ausstellung eine Serie ganz simpel zusammengesteckter Legobausteine zu sehen: Jeweils nur zwei Farben müssen vertauscht werden, damit ein ganz neues Objekt entsteht und aus einem weiß-roten Sushi beispielsweise die rot-weiße Japan-Flagge wird. Erhellend und erheiternd, ebenso wie die Serie „Artenvielfalt“, bei der Niemann aus Blättern Alltagsgegenstände wie T-Shirts und Pizzen formt. Der Witz ergibt sich aus der verblüffenden Ähnlichkeit der Formen und Farben und der Kombination aus kreativen Kompositionen und Titeln.

Kritischer Kommentator und politische Stimme

„Blätter, Lego, Gummibären, das sind die großen Themen unserer Zeit“, scherzt Niemann bei der Pressekonferenz. Abseits dieser kunstvollen Alltagsblödeleien mit kargen Strichen von großer Wirkung sind die großen Themen unserer Zeit tatsächlich stets präsent in seinem Werk. Der Künstler ist genau informiert über das politische Tagesgeschehen und nimmt kritisch dazu Stellung, zum Attentat auf „Charlie Hebdo“ ebenso wie zur Atomkatastrophe in Fukushima und zur US-amerikanischen Rüstungsindustrie.

Daneben ist der 1970 geborene Niemann auch gefragter Werbegrafiker. Er zeichnet für das US-amerikanische Unternehmen Amtrak und die österreichische Anwaltskanzlei Wolf Theiss, deren von Niemann gestaltete Annoncen regelmäßig in österreichischen Tageszeitungen geschaltet werden. Er gestaltet regelmäßig animierte Logos (Doodles) für den IT-Riesen Google und arbeitet für den Sportkonzern Nike. Was für manche schwer vereinbar scheint, wird bei Niemann zum logischen Nebeneinander. Egal ob formal, ästhetisch oder moralisch, nichts scheint einander auszuschließen.

Figuren an den MAK-Wänden

Auftragsarbeiten für Kunden aus aller Welt wechseln sich mit eigenen „Kampagnen ohne Auftrag“ ab. Analoge Miniaturinstallationen, die aussehen, als wären sie beim Spiel mit seinen Kindern entstanden, finden sich in animierter Form in Blogs und Apps wieder.

Eindrücke der Niemann Ausstellung im MAK

MAK/Georg Mayer

Stricken: ein roter Faden, auch wenn er weiß ist

Alles hat seinen Platz, so scheint es, und die Übergänge sind fließend. Das zeigt sich auch in der aktuellen Schau im MAK. Wenige Tage vor der Eröffnung schloss sich Niemann dort ein, ausgestattet mit Farbe und Pinsel, und malte seine Figuren zwischen den gehängten Arbeiten direkt an die Stellwände. Zwischen einzelnen Arbeiten zeichnete er Verbindungslinien und verknüpfte so zum Beispiel die Brooklyn Bridge mit einem Teller Spaghetti.

Die Magie des analogen Kunstwerks

Vor allem die Liebe zu analogen Formen wird in der Ausstellung deutlich. In der Serie „Leise krümelt der Keks“ formt Niemann eine Reihe von Alltagsszenen aus Teig und kommentiert sie. Ein Weihnachtsstiefel wird zu Italien, drei davon formieren sich zu den Alpen, daneben entstehen Elche und ein Ikea-Regal samt Fachböden und typisch geformtem Fußteil. Ein Kaffeebecher, richtig platziert, komplettiert eine Skizze auf verblüffend einfache Weise zum ausdrucksstarken Ganzen.

Ausstellungshinweis

„Christoph Niemann. Unterm Strich“ ist im Wiener MAK bis 11. Oktober täglich außer montags von 10.00 bis 18.00 Uhr, dienstags von 10.00 bis 22.00 Uhr zu sehen.

Dass es vom Keksteig zum Instagram-Account nur ein Wimpernschlag ist, zeigt Niemann regelmäßig mit seinen „Sunday Sketches“. Die kleinen Alltagsskizzen auf quadratischen Leinwänden sind Collagen aus Farbflächen, Pinselstrichen und dreidimensionalen Objekten, vom Leuchtstift bis zum Avocadokern. Jeden Sonntag postet Niemann eine dieser Arbeiten auf Instagram und hat damit bereits mehr als 60.000 Fans gewonnen. Überhaupt ist der Künstler auf allen Kanälen zu Hause, egal ob Facebook, Twitter, Instagram oder Pinteres.

Meister der reduzierten Formen

Daneben betreibt er sein Blog abstract city im „New Yorker“, bei dem er mit gewohnt reduzierten Formen und Linien große Geschichten erzählt. Reduktion und Abstraktion hätten ihn seit jeher fasziniert an seinem Beruf, erzählt Niemann. Und es scheint, als habe er diese Fertigkeit wie kaum ein anderer perfektioniert und seine Arbeit damit markt- und salonfähig gemacht. Ein Beispiel dafür ist ein Siebdruck, bei dem aus einem Fadenspiel die Brooklyn Bridge entsteht. Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck war von dieser Arbeit so begeistert, dass er das Bild 2013 dem US-Präsidenten Barack Obama bei dessen Berlin-Besuch schenkte.

Judith Hoffmann, ORF.at

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