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Aufbau für den Zuzug

Wenn die Stadt Berlin den Wohnungsneubau für sich wiederentdeckt und dabei fürs Fact-Finding immer wieder in Wien nach Modellen Ausschau hält, dann fällt auf, dass zwei europäische Metropolen mit immer noch dominantem Mieter- statt Eigentümerbestand vor recht ähnlichen Herausforderungen stehen. Eine davon ist, an attraktive wie günstige Standorte zu kommen, um darauf finanzierbare Wohneinheiten errichten zu können.

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Für Berliner Verhältnisse erscheint der soziale Wiener Wohnbau durchaus wie eine Messlatte: Betreibt Berlin in den vergangenen Jahren so gut wie keinen sozialen Wohnungsneubau, so baut Wien pro Jahr 7.000 geförderte Wohneinheiten. „Neubau war in Berlin über Jahre hinweg überhaupt kein Thema“, so die Chefin der größten kommunalen Berliner Wohnungsbaugesellschaft degewo, Kristina Jahn, bei einem Besuch im Frühjahr in Wien.

Besuch der Seestadt Aspern

Luiza Puiu

Degewo-Chefin Jahn (vorne rechts) mit breiter Truppe auf Fact-Finding-Mission in Wien

Man habe knapp nach der Wende zu bauen begonnen, doch die Nachfrage sei ausgeblieben, sagte Jahn gegenüber ORF.at. Doch die Zeiten änderten sich und sie erinnerte an den jährlichen Zuzug von 45.000 Menschen in Berlin. Das etwa halb so große Wien kalkuliert derzeit mit einem Zuzug von 25.000 Personen pro Jahr.

Berlin verschreibt sich dem Wohnungsneubau

Der Umbau der Berliner Regierung Ende 2014 brachte auch eine Wende in der Wohnbaupolitik an der Spree. Berlins Bürgermeister Michael Müller (SPD) war zuvor Bausenator - und die Stadt erkannte, dass sie neuen, finanzierbaren Wohnraum schaffen muss. „Berlin wächst“, sagte etwa auch Andreas Geisel, Berliner Senator für Stadtentwicklung und Umwelt, zu ORF.at: „Um die große Wohnungsnachfrage zu befriedigen, müssen in den nächsten zehn Jahren über 100.000 neue Wohnungen entstehen.“ Bei der Steigerung des Wohnungsneubaus wolle Berlin aber verzahnt denken und besonders die technische und soziale Infrastruktur in den neuen Quartieren mitbedenken und planen.

Unterschiedliche Baukulturen

Eine Orientierung, wie weit zwei Städte im Bereich des geförderten Wohnbaus sind, brachte ein Zusammentreffen einer Berliner Delegation mit Wiener Bauträgern und Experten vor Ostern. Das Sonnwendviertel mit 5.000 Wohneinheiten, die Seestadt Aspern und das Gelände des Nordbahnhofs mit je etwa 10.000 Wohnungen bildeten dabei nicht nur eine Vergleichsgrundlage, sondern auch eine Möglichkeit zur Standortbestimmung.

Berlin besucht Wiener sozialen Wohnbau

Luiza Puiu

Berliner und Wiener Planungsgipfel zur Weiterentwicklung des sozialen Wohnbaus

So unterscheiden sich nicht nur die Baukulturen der beiden Städte. Mehr als drei bis vier Wohnungen pro Stockwerk zu erschließen, ist für den Berliner Wohnbau etwa schwer möglich - in Wien sind es dagegen sechs Wohneinheiten pro Stockwerk, was mehr Effizienz in der Herstellung von Nettowohnfläche schafft. „In Berlin“, so degewo-Chefin Jahn, „wäre das auch eine soziale Herausforderung.“

Besuch der Seestadt Aspern

Luiza Puiu

Beim Thema Flächeneffizienz orientiert sich Berlin an großzügigen Perspektiven - hier bei einer Momentaufnahme in der Seestadt Aspern

Doch Flächeneffizienz ist beim sozialen Wohnbau ein großes Thema. In Berlin hat man im Moment laut den Wiener Architekten Otto Höller und Oliver Scheifinger, die Wohnbauten in Wien und auch Berlin errichten, bei 100 Quadratmetern Neubau nur 65 Quadratmeter vermietbare Wohnfläche. Eine effizientere Flächennutzung schaffe auch Raum für soziale Gemeinschaftsflächen, wie etwa ein Besuch im neuen Sonnwendviertel zeigte.

Kristina Jahn und Christoph Chorherr

Luiza Puiu

Jahn und der grüne Wohnbauexperte Chorherr: „Neubau war in Berlin über Jahre hinweg kein Thema.“

Wie kommt man an die gute Lage?

Die größte Anforderung an den sozialen Wohnbau bleibt der Errichtungspreis für einen Quadratmeter Neubauwohnung. Um diesen zu erreichen, gilt es nicht nur bei den technischen und baulichen Maßnahmen ökonomisch effizient zu kalkulieren. Die Frage der Lage und der Grundstückspreis sind weitere zentrale Aspekte bei der Kalkulation.

In Berlin muss man für einen errichteten Quadratmeter deutlich sparsamer kalkulieren als in Wien, ist doch schon das Grundmietniveau in Berlin deutlich niedriger als in Wien. Auf der anderen Seite werde es, so Wilhelm Zechner von der Sozialbau AG, für die Bauträger immer schwieriger, im verdichteten Stadtraum an Flächen für den Wohnbau, die auch bezahlbar sind, zu kommen.

„Auch in Berlin explodieren die Grundstückspreise“, sagte Jahn und ergänzte: zumindest für Berliner Verhältnisse. Die degewo, die einen Bestand von 70.000 Wohnungen aufweist (im Vergleich: Wiener Wohnen hat 220.000 Einheiten, Sozialbau 48.000), nutzt einerseits ein Vorkaufsrecht von Grundstücken, die die Stadt veräußern will. Andererseits baut man dort, wo man schon Grundstücke besitzt.

„Wir brauchen den Wohnbau in der Stadt“

Für den grünen Wohnbauexperten Christoph Chorherr ist der soziale Wohnbau in der Stadt die zentrale Herausforderung der nächsten Jahre. „Wir brauchen den Wohnbau in der Stadt, damit wir junge Familien nicht ins Umland abdrängen, weil sie sich mittlerweile nur noch dort das Wohnen leisten können und am Ende einen riesigen CO2-Fußabdruck produzieren, weil sie jeden Tag zum Arbeiten in die Stadt pendeln“, sagte Chorherr.

Blick auf sozialen Wohnbau Anton Baumgartnerstraße

Luiza Puiu

Geförderter Wohnbau im Süden von Wien: Flächen und Akzeptanz für große Wohnprojekte zu finden bleibt eine große Herausforderung.

Wien sei mit einem jährlichen Zuzug von 25.000 Menschen in seiner expansivsten Phase der Geschichte. „Die Grundstückskosten und Lagen in der Stadt sind für den sozialen Wohnbau die größte Herausforderung“, so Chorherr. Mittlerweile belaufe sich der Anteil der Grundstückskosten bei einem errichteten Wohnbauquadratmeter auf 60 bis 70 Prozent. Für Chorherr hat die Stadt in der Situation einer Niedrigzinspolitik die Chance, Kapital aufzunehmen, weil sie die besten Zinskonditionen bekomme - und dieses Geld solle sie dem sozialen Wohnbau für den Erwerb von Grundflächen zur Verfügung stellen.

Eine Frage der Akzeptanz

Bei der Errichtung neuer Wohneinheiten stellt auch die Akzeptanz der Projekte bei der Bevölkerung eine große Herausforderungen dar. Auch hier werden kulturelle Unterschiede zwischen dem Baustandort Wien und Berlin deutlich. „Es wird immer schwieriger, große Projekte zu entwickeln“, sagte Sozialbau-Vorstand Zechner, der mit seiner Genossenschaft auf eine jahrzehntelange Geschichte von Wohnungsentwicklungen zurückblickt.

Wilhelm Zechner vom Sozialbau erklärt ein Wiener Wohnprojekt

Luiza Puiu

Sozialbau-Vorstand Zechner (Mitte) mit Berliner Expertenteam: „Wo finden wir die Flächen, wo wir große Projekte umsetzen können?“

„Das Wort Solidarität nimmt an Bedeutung ab“, sagte Zechner gegenüber ORF.at. Und er erinnerte daran, dass sich oft gerade jene gegen den Wohnungsausbau querlegten, die selber wenige Jahre davor in eine Gegend gezogen seien. „Dabei entwickeln wir ja soziales Wohnen und keine spekulativen Immobilienprojekte“, so Zechner, der in der Gegenwart die Erfahrung machte, dass auch die Erweiterung von Bürgerbeteiligungsverfahren nicht davor schütze, dass sich am Ende nicht doch Initiativen gegen größere Projekte starkmachten.

Wie bindet man Anrainer im Vorfeld ein?

Doch was Bürgerproteste im Vorfeld von Großprojekten anbelangt, steht Wien wie eine Insel der Seligen da. Der Blick nach Hamburg und Berlin offenbart: Auseinandersetzungen um neue Wohnbauprojekte können sogar ganz radikale Proteste auf die Straße ziehen. Hamburg setzt beispielsweise in Vierteln wie St. Pauli auf die Miteinbeziehung der Wohnbevölkerung, etwa bei der Neubebauung der Esso-Gründe - zu groß ist dort die Angst vor Bildern mit brennenden Straßenbarrikaden und entsprechenden Imageschäden für den gesamten Investitionsstandort.

In Berlin wiederum nagt man an der Ablehnung der Bebauung des Randes des ehemaligen Flugfeldes Tempelhof, gegen das sich die Bürger vehement stemmten Beobachter meinen sogar, dieser Entscheid habe Berlins ehemaligen Bürgermeister Klaus Wowereit mehr zugesetzt als die Kalamitäten um den neuen Berliner Großflughafen Schönefeld. Die degewo wolle jedenfalls, wie man in Wien erklärte, vor allem dort bauen, wo man schon bestimmte Grundstücksflächen hat.

Für den Bauträger bleibt die Schwierigkeit, die richtigen Flächen zu finden. „Wir brauchen sozialen Wohnbau dringender denn je“, sagte Zechner. Momentan fördere die Regierung Tausende neue Wohneinheiten mit dem neuen Konjunkturprogramm, aber: „Wir haben in Wien die Flächen nicht, wo wir große Projekte entwickeln können“, so der Sozialbau-Vorstand.

Wer sind die Zielgruppen der Zukunft?

Insgesamt stehen Berlin und Wien als Großstädte vor der Aufgabe, die Zielgruppen neu in den Blick zu nehmen, für die man letztlich baut. Laut Chorherr denkt man aber bei der Errichtung von gefördertem Wohnbau immer noch zu sehr an die klassische Familienform. „Dabei leben 40 Prozent der Menschen in Wien in Einpersonenhaushalten, 70 Prozent der Wohnbevölkerung sind Ein- oder Zweipersonenhaushalte“, so Chorherr, der auch auf den Bedarf an Wohnungen für Leute verweist, die sich nur temporär in der Stadt aufhalten.

Bild Robert Temel

Luiza Puiu

Stadtforscher Temel: „Geförderter Wohnbau ist in Wien eher mittelstandsorientiert.“

Für die Politik stelle sich auch die Aufgabe, daran zu denken, dass die Menschen in ihren neuen Lebensdomizilen „nicht vereinzeln“. Insofern müsse der neue soziale Wohnbau auch Gemeinschafts- und Sozialflächen stark fördern.

„Stadt bauen statt Wohnsiedlung bauen“

Für den Architekten und Stadtforscher Robert Temel, der ebenfalls am Gipfeltreffen Wien-Berlin teilnahm, geht es am Ende nicht nur um eine Frage der Lage. „Natürlich muss man in stadtnahen Lagen und nicht in der Pampa bauen“, so Temel. Zu denken gebe ihm, dass der geförderte Wohnbau ja selbst neue Lagen mache.

Er sagte außerdem, dass man vor allem den kostengünstigen Wohnbau nicht aus den Augen verlieren dürfe: „Seit ein paar Jahren wird wieder stärker darauf geachtet, dass es auch neue Wohnungen für die unteren Einkommensschichten gibt, das sind jetzt die sogenannten SMART-Wohnungen.“ Generell, konstatierte Temel, sei der geförderte Wohnbau in Wien eher mittelstandsorientiert.

„Stadt bauen statt Wohnsiedlungen bauen“, sagte der Stadtforscher und fasste damit seine Grundmaxime zur Weiterentwickeln des Wohnens in der Stadt zusammen. Der Fokus auf die Wohnraumversorgung führe dazu, dass andere Aspekte der Stadt vernachlässigt würden: „Erdgeschoßzonen, Integrieren von Gewerbe, Büros, Freizeit, Kultur u. ä. - das ist ein langjähriges Problem, für das es bis heute keine Lösung gibt.“ Erste Ansätze in diese Richtung könne man aber in Aspern und bei dem Projekt „Leben am Helmut-Zilk-Park“ beim Wiener Hauptbahnhofareal sehen.

Gerald Heidegger, ORF.at

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