Atemlos durch die Nacht
Sebastian Schippers mutiges Filmexperiment „Victoria“ erzählt die Geschichte eines Bankraubs in 140 Minuten – und ohne einen einzigen Schnitt.
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
„Victoria“ beginnt in einer Berliner Disco mit hartem Techno. Das Stroboskoplicht flackert, während eine junge Frau (gespielt von Laia Costa) beim Tanzen die Faust in die Luft reckt. Dann geht sie an die Bar, bestellt sich einen doppelten Wodka und versucht freundlich, aber bestimmt, den Barkeeper aufzureißen. „Victoria“ ist ein eigenwilliger Film mit einer toughen Titelheldin. Wenn Victoria später drei halbstarke Burschen kennenlernt und sich von ihnen in einen Bankraub verwickeln lässt, geschieht das, obwohl sie Nein sagen könnte. Wenn sie wollte. Aber sie will nicht.
Schipper ist vielen als Hamburger „Tatort“-Kommissar Jan Katz an der Seite von Wotan Wilke Möhring bekannt. „Victoria“ ist nach der damals irgendwie untergegangenen Hamburger Buddy-Komödie „Absolute Giganten“ (1999), nach „Ein Freund von mir“ (2006) und „Mitte Ende August“ (2009) sein vierter Kinofilm als Regisseur. Für diesen radikalen filmischen Energieausbruch bekommt Schipper nun die Anerkennung, die er verdient. Hollywood schickt ihm Drehbücher, wie er im Gespräch mit ORF.at erzählt, und die deutsche Presse vergleicht den Film bereits mit Tom Tykwers „Lola rennt“ (1998), der damals eine ganze Generation von Filmemachern prägte (und in dem Schipper eine Nebenrolle spielte). Wobei der Vergleich hinkt, denn „Victoria“ ist mit wesentlich mehr Gefühl gedreht, als Tykwers kalkulierter Knaller.

Polyfilm
Sie nannten ihn Sonne: Frederick Lau zielt auf Franz Rogowski
Filme, die in einer Einstellung gedreht sind (oder so tun, als ob):
- „Rope“ (Alfred Hitchcock, 1948, 80 Min.)
- „Rakete“ (Ulrich Köhler, 1999, zehn Min.)
- „Russian Ark“ (Aleksandr Sokurov, 2002, 99 Min.)
- „Fish and Cat“ (Sharam Mokri, 2013, 134 Min.)
- „Birdman“ (Alejandro G. Inarritu, 2014, 119 Min.)
Tour durch das nächtliche Berlin
In „Victoria“ wirkt die filmische Bewegung leichtfüßig wie ein Tanz: Sogar Autofahrten meistert Kameramann Sturla Brandth Grovlen, indem er wie ein Schatten der Darsteller auf die Rückbank gleitet und anschließend ohne Ruckler wieder heraus. Wenn man es nicht wüsste, vielleicht käme man nicht so bald darauf, dass dieser Film das Kunststück vollbringt, 140 Minuten nächtlicher Handlung in einer einzigen, ungeschnittenen Kameraeinstellung zu erzählen. Viel zu sehr ist man eingenommen vom Spiel der Darsteller, die auf der Grundlage eines zwölfseitigen Drehbuchentwurfs improvisieren.
Costa, die die junge Spanierin Victoria spielt, bezaubert durch ihren puren Überfluss an Energie. Frederick Lau, in der Rolle von Sonne, dem Kreuzberger Kindskopf-Rabauken, will mit ihr flirten: Sein schlechtes Englisch macht er mit dem schönsten schiefen Lächeln wett, das man sich vorstellen kann. Die beiden begegnen sich in der Disco zu einer Zeit, in der die Berliner Straßenkehrer draußen bereits die Bierdosen wegkehren und die Vögel in den Alleebäumen den Morgen begrüßen. Während Victoria ihr Fahrrad aufsperrt, knackt Sonne mit seinen Burschen ein Auto. Lachend und fluchend laufen die Burschen davon, als plötzlich der Besitzer auftaucht.
Staunen, dass es den anderen gibt
Was als Geplänkel zwischen den Burschen und der selbstbewussten Spanierin beginnt, mündet in eine wunderschöne Szene des Verliebens: Victoria nimmt Sonne mit in das Cafe, in dem sie jobbt. Es ist noch geschlossen. Sie setzt sich an das Klavier, spielt und erzählt von ihren geplatzten Träumen, Konzertpianistin zu werden, und von den vier Euro Stundenlohn, die sie hier verdient. Sonne, der ihr bisher den toughen Ghettoboy vorspielt, ist auf einmal still. So eine Musik, sagt er, hat er noch nie gehört. Die beiden schauen sich an und staunen, dass es den anderen gibt.

Polyfilm
Genial gecastet: Laia Costa, Frederick Lau und Franz Rogowski beweisen Charme, Witz und Improvisationstalent
Nach diesem intimen Moment gibt die Handlung Gas. Ein Telefonanruf, plötzliche Hektik. Sonne wird aus seiner Versenkung gerissen. Ein Auto wird gestohlen. Nicht lange, und die Burschen halten Waffen in den Händen und flüchten nach einem Banküberfall - mit Victoria am Steuer des Wagens. Was eine Liebesgeschichte werden wollte, kippt durch ein Kommando von außen zum Thriller, und alle vier, das Mädchen und die Burschen, taumeln mit, ohne je ihre moralische Unschuld zu verlieren. Auch wenn sie noch so oft das Gesetz brechen - man mag sie und drückt ihnen die Daumen.
Regisseur Schipper wagt viel - und gewinnt
Egal was kommt - die Burschen wollen sich einfach nicht fürchten. Ähnlich hält es Schipper, der mit 47 Jahren nicht ganz so jung ist: Als Regisseur wagt er Dinge, die andere auch mit zahlreichen Schnitten und Stuntman nicht probieren würden. Vor laufender Kamera balanciert Hauptdarstellerin Costa stehend auf dem Gepäckträger eines Fahrrads, das Kollege Frederick Lau durch eine schmale Hofeinfahrt lenkt. Dabei trinkt sie Bier aus der Flasche. Ein Sturz hätte genügt, um den ganzen Dreh zu verderben. Egal. Es geht ja gut.
Schipper dreht Autofahrten und Massenszenen, wechselt ein Dutzend Mal den Ort. Dreht an öffentlichen Plätzen, im Inneren eines Taxis und einmal auch mit einem echten Säugling. Alles in einer Einstellung. Und alles passt, ist stimmungsvoll, dicht und wunderschön. Für diesen Mut gebührt ihm und seinem Team, vor allem der Marathonkamera von Sturla Brandth Grovlen, Respekt. Klar, manchmal ist der Kameraschatten auf dem Rücken eines Darstellers zu sehen. Aber wen stört das schon bei einem Film, der einen atemlos mitnimmt. In dem der Schweiß im Gesicht der Darstellerin Costa nach 140 Minuten echt ist. Das weiß man. Man war ja die ganze Zeit dabei.
Maya McKechneay, ORF.at
Links: