Tanz die Topografie
In Polen scheppern die Beats in einem aufgelassenen Bergwerk, in Deutschland besinnt man sich auf das Rurale inmitten der Heidelandschaft, und in Schweden setzt man sich in ein Loch: In ganz Europa locken ungewöhnliche Locations zu Musikfestivals quer durch die Genres. Von bizarr bis beschaulich ist alles dabei. Dabei wird aber auch Komfort immer mehr zum Thema.
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Dank Guns N’ Roses assoziierte die Jugend der 1980er Jahre mit einer „Paradise City” einschlägige Rauchware in Kombination mit schönen Mädchen und einem generell locker gelebten Umgang mit bürgerlichen Werten. Knapp 30 Jahre später und gut 15 Kilometer von Brüssel entfernt wird der utopische Ort einer Paradise City am 4. und 5. Juli ganz anders gedeutet.
Beim gleichnamigen Festival stehen die Zeichen auf Green Event, bei dem dem Elektronik-Publikum auch ein festivaleigener Komposthaufen offeriert wird. Besucher sind dann nicht bloß Besucher, sondern werden mit ihrem Green Ticket zu „Bürgern dieser Stadt der Zukunft“. Weil es heuer erstmals ausgetragen wird, macht der Ticketkauf diese Pioniere zu „ersten Siedlern“. Und all jene würden bei zukünftigen Austragungen von Paradise City bevorzugt behandelt, lautet das Versprechen der Veranstalter - hinter denen keine Sekte steht.
Alice in den Niederlanden
Doch eigentlich ist es nicht das eigenwillige Eso-Öko-Marketing, sondern das Gelände des Chateau de Ribaucourt im belgischen Perk, das dem Festival eine besondere Note verleiht. Ein pittoreskes Schloss aus dem 15. Jahrhundert, das - umgeben von Wasserkanälen - an einen großen Schlosspark grenzt, dient als Austragungsgelände des Konzertreigens, der Künstler wie Herbert, GusGus, Jazzanova und auch ein Gastspiel des international höchst erfolgreichen Wiener Elektro-Pop-Duos HVOB (Her Voice Over Boys) bringt.
Damit entsprechen die Macher dem westeuropäischen Festivalpatentrezept der letzten Jahre: Eine exzentrische Location, die mehr der Natur als dem Urbanen folgt, und viele außermusikalische Faktoren sollen das Publikum locken. Das niederländische Down-The-Rabbit-Hole-Festival rückt sich in einen psychedelischen Kontext und wirbt damit, den Alltag für mehrere Tage vergessen zu lassen. Die Location zwischen den Flüssen Maas und Waal ist ebenso höchst beschaulich. Etwas weniger psychedelisch klingt die Musik: Iggy Pop, Ryan Adams und Roisin Murphy bespielen das heuer zum vierten Mal stattfindende Festival.
Die Welt besteht aus Geschichten
Die Worte Genuss und Komfort fallen im Festivalzusammenhang mittlerweile ungemein oft. Da passt auch das deutsche A-Summer’s-Tale-Festival perfekt ins Bild. Nahe der Lüneburger Heide in Luhmühlen abgehalten wird dort mit einem ruralen Idyll geworben. Die Rede ist von tiefen Wäldern, urigen Mooren und luftigen Birkenhainen, die das Festivalgelände umgeben.

FKP Scorpio
Das A-Summer’s-Tale-Festival will mit märchenhafter Stimmung bezaubern
Und weil Marketingmenschen wissen, dass es Geschichten sind, die den Menschen seit jeher faszinieren und sich daher entsprechend einprägen, fordern die Veranstalter die Besucher auf, jeder möge seine eigene Sommergeschichte erleben, während am ersten August-Wochenende Calexico, Patti Smith, Tori Amos und Damien Rice konzertieren. Das entspricht dann eindeutig dem Klischee des Volkes der Dichter und Denker, das seine Inspiration aus der Natur bezieht.
Beats in Polen
Da kann der hartgesottene Festivalbesucher nur froh sein, dass es die Polen gibt. Beim Festival Tauron Nowa Muzyka in Kattowitz verwandelt sich seit zehn Jahren ein ehemaliges Kohlekraftwerk in einen Tempel für elektronische Musik. Das Festival erspielte sich damit eine europaweite Reputation und lockte mit Weltstars des Technos und der Avantgarde. Techno-Übervater Jeff Mills wird am letzten Wochenende im August gemeinsam mit dem polnischen Radio-Symphonie-Orchester auftreten. Ebenso dabei sind Autechre und Apparat. Wer hier richtig bei der Sache ist, erinnert sich am nächsten Tag gewiss an keine Geschichte mehr. Wer apokalyptisches Lebensgefühl schätzt, ist hier genau richtig.
Die Nutzung bestehender Infrastruktur ist auch im slowakischen Trencin Ausgangspunkt für einen mehrtägigen Konzertreigen. Auf dem Gelände des dortigen Flughafens findet mit dem Pohoda-Festival seit den späten 90er Jahren das größte Musikfestival der Slowakei statt. Auch heuer geben sich am Wochenende ab dem 9. Juli große Namen der Popwelt die Klinke in die Hand. Björk ist im slowakischen Hinterland ebenso zu hören wie etwa Franz Ferdinand & Sparks, Einstürzende Neubauten und Manu Chao. Von Westösterreich aus ist das Festival in zwei bis drei Autostunden zu erreichen.
Clubben wie James Bond
Das Gegenteil eines flachen Festivalgeländes offeriert hingegen Into The Valley in Schweden – eine der bizarrsten Festivallocations in ganz Europa. Tief unten in einem stillgelegten Kalksteinbruch - der Assoziationen zu einem Vulkankrater weckt und auf dessen Grund in James-Bond-Manier ein kleiner See grünlich schimmert - geht es mit Weltstars in Sachen House und Techno zur Sache. Heuer erstmals ausgetragen sind Carl Craig, John Talabot, Ricardo Villalobos, Richie Hawtin und ähnliche Kaliber mit dabei.
Näher bei den Göttern
Der landschaftlichen Schönheit Skandinaviens wird in Festivalform schon lange nachgespürt. Eine diesbezügliche Legende ist das norwegische Traenafestivalen auf der entlegenen Insel Traena, das jedes Jahr pünktlich zur Sommersonnenwende steigt, wenn es im hohen Norden so gar nicht richtig dunkel werden will. Heuer ist es in der zweiten Juli-Woche so weit.
Inmitten der bizarren Felsformation der Grotte Kirkehellaren, wo bereits vor tausend Jahren den Göttern Opfer dargebracht wurden, ist seit knapp nach der Jahrtausendwende die Musik zu Hause. Bekannte internationale Namen sind auf Traena immer wieder zu finden. Heuer ist es vorwiegend eine skandinavische Riege an Musikern, die zwischen Beats, Singer/Songwriter-Sounds und Experimentalklängen für unschlagbare Atmosphäre sorgen wird. Der Star ist hier die Landschaft.
Wenn der Berg groovt
Dabei ist es nicht einmal nötig, besonders weit zu reisen, um unter einem bizarren Setting diversen Festivalfreuden nachzugehen. Das Wetterleuchten-Festival findet hoch über Innsbruck in 2.000 Metern Höhe statt. Das am 18. und 19. Juli abgehaltene Festival wirbt damit, das höchstgelegene Elektro-Festival Europas zu sein. Hoch oben auf der Innsbrucker Nordkette erübrigt es sich, mit bekannten Künstlern zu locken. Auch hier zählt die Kulisse.

Wetterleuchten.at
Beim Wetterleuchten-Festival zählt die Kulisse genauso viel wie die Musik
Und auch das Zeitmaß eines gewöhnlichen Festivals löst sich hier auf. Denn so richtig spannend wird es beim Wetterleuchten-Festival, wenn früh am Morgen die Sonne aufgeht und den Alpenhauptkamm entsprechend inszeniert. Ob hier archaische Riten zum Vorschein kommen oder ob es doch in erster Linie um die Musik geht, werden allerdings Ethnologen, Psychologen und Soziologen herausfinden müssen.
Johannes Luxner, ORF.at
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