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In die Heimatlosigkeit getrieben

Der Regisseur Simon Wieland trägt in seiner Dokumentation „Nemci Ven! - Deutsche raus“ über die Vertreibung der deutschsprachigen Minderheit aus Tschechien 1945 zur Aufarbeitung eines bis heute umstrittenen Kapitels der Zeitgeschichte auf. Es geht um Widersprüche, um Rache, um Aktion und Reaktion, aber vor allem geht es um den Versuch zu vergessen und zu vergeben.

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Nach „Heil Hitler – Die Russen kommen“, in dem Berichte von Zeitzeugen über die Jahre 1938 bis 1945 im Zentrum stehen, hat der 1963 geborene Regisseur in Zusammenarbeit mit dem Journalisten und Autor Andreas Kuba nun einen Film über die Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung aus der ehemaligen Tschechoslowakei, speziell über den „Brünner Todesmarsch“ vom 31. Mai 1945, gemacht. Der Anspruch der Doku ist es, das Schwarz-Weiß-Denken infrage zu stellen und den Blick auf die vielen Graunuancen zu lenken.

Filmszene

Simon Wieland Film/www.thiemfilm.at

Bis heute zeugen verlassene Gebäude von der Vertreibung

Gut und Böse verschwimmen, unscharf sind die Grenzen zwischen Opfern und Tätern. Berührend sind die Szenen, in denen Überlebende zurück in ihre Heimatorte, zurück zu ihren Elternhäusern fahren und von ihren persönlichen Erinnerungen und Erlebnissen sprechen. Berührend auch die Geschichte von Josef Styx, einem Tschechen, der im ehemaligen Gestapo-Gefängnis von den Gräueltaten der Nationalsozialisten spricht. Nicht nur einmal wird klar: Opfer und Täter stehen auf beiden Seiten.

Leben für Leben, Auge für Auge

Die vom ORF und dem Land Niederösterreich geförderte Dokumentation macht deutlich: Hier wurden Menschen auf beiden Seiten benutzt. Ohne eine moralische Gleichstellung zu suggerieren zeigt die Doku: Adolf Hitler hetzt gegen Juden und Tschechen, die schikaniert und umgebracht werden, Edvard Benes hetzt gegen Deutsche, die schikaniert und schließlich am 31. Mai 1945 vertrieben werden. Getrieben wie Vieh werden hier fast ausschließlich Frauen, Kinder und alte Menschen. Die meisten Männer waren zu diesem Zeitpunkt in Kriegsgefangenschaft.

Filmszene

Simon Wieland Film/www.thiemfilm.at

„Die Deutschen sollen das Maul halten und froh sein, dass sie überlebt haben“

Auf dem Weg von Brno, der Hauptstadt Mährens, über Pohrlitz bis Niederösterreich starben von rund 27.000 Menschen mehr als 5.000 durch Entkräftung oder Krankheiten oder wurden getötet. Umso empörender wirkt die Aussage von Radovan Podel, der die Vertreibung als Aufseher begleitet hat und nichts von Schlägen, Tötungen oder Vergewaltigungen gewusst haben will: „Die Deutschen sollen das Maul halten und froh sein, dass sie überlebt haben.“

Hass und Beklemmung

Doch auf diese Art der Simplifizierung zielt der Film gerade nicht ab. Wieland und Kuba urteilen weder über Podel noch über den Satz einer Zeitzeugin: „Ich hasse die Tschechen. Ich hasse auch die tschechische Sprache.“ Sie lassen einfach beide nebeneinander stehen. Auch als festgestellt wird, dass „alle Deutschen, die da gewohnt haben“, plötzlich „weg waren“, wird in einer anderen Szene davon berichtet, dass in den Jahren zuvor „alle Juden“ von einem Tag auf den anderen „weg waren“.

Filmszene

Simon Wieland Film/www.thiemfilm.at

Plötzlich schien klar: „Wir werden alle erschossen“

Die nationalsozialistisch geprägte Vergangenheit der deutschen Zeitzeugen wird dabei keineswegs verschwiegen. Sowohl von den jubelnden Menschenmassen, die Hitlers Wagenkolonne erwarten, als auch von den Aktivitäten in der Hitlerjugend wird erzählt. Beklemmend sind die Berichte darüber, beklemmend auch die eindringlichen Bilder der 90-minütigen Dokumentation. Verfallene Häuser und trostlose Straßen vermitteln ein Gefühl von Enge. Aufnahmen von Wiesen und Feldern illustrieren hingegen gleichzeitig eine gewisse Art von Weite und Hoffnung.

Sudetendeutsche

picturedesk.com/SZ-Photo/S.M.

Die Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung im Jahr 1945

Wer wirft den ersten Stein?

Am 20. Mai dieses Jahres bat der Stadtrat von Brno um Entschuldigung für die gewaltsame Vertreibung. Zudem wurde ein Gedenkmarsch für den 30. Mai in umgekehrte Richtung beschlossen. Trotzdem scheint es keine Versöhnung zu geben. Zuletzt äußerte sich Michal Hasek, Kreishauptmann der Region Südmähren, kritisch: „Wer hat sich für die Vertreibung der Tschechen im Herbst 1938 in Südmähren entschuldigt, wer für die Hunderttausenden hingerichteter Widerstandskämpfer (…), für die deportierten Juden und Roma aus Brno?“

Der Film macht deutlich, dass sich beide Seiten nach wie vor in erster Linie als Opfer sehen. Möglicherweise braucht es noch eine weitere Generation, um die Täterrolle ins historische Selbstverständnis zu integrieren.

Lena Eich, ORF.at

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