Pfand für ein Leben
Dramatische Ereignisse im München des Jahres 1938 haben nun ihren Nachhall - in Sozialen Netzwerken, im Internet, im Radio, im Fernsehen und in Zeitungen, in Österreich, der Schweiz und Deutschland. Ein Mann wurde damals ins KZ verschleppt. Seine Frau kaufte ihn offenbar über Umwege mit einem Gemälde frei. Die Spur dieses Gemäldes soll ab Donnerstag gemeinschaftlich verfolgt werden.
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Die deutsche Recherchetruppe Follow the Money hat Erfahrung mit Großprojekten. Einmal bestückten die Mitarbeiter alte Fernsehgeräte mit GPS-Sendern und deckten so die Lüge von der ressourcenschonenden Entsorgung auf. Bis Westafrika folgten sie dem illegal exportierten Elektroschrott. Diesmal begeben sich die preisgekrönten Journalisten auf die Suche nach „Fluchtkunst“ - ob es sich um NS-Raubkunst handelt, soll noch herausgefunden werden. Unterstützung holt sich Follow the Money aus dem Internet: Jeder soll kommentieren, mitdiskutieren, Tipps geben und sich als zeit- und kunsthistorischer Detektiv betätigen.
Das Projekt richtet sich mit regelmäßigen Medienberichten auch im ORF, wöchentlichen Podcasts über den Fortgang der Suche und mit der engen WhatsApp-Anbindung nicht zuletzt an eine jugendliche Zielgruppe. Es soll Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass der Nationalsozialismus längst kein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte ist, sondern seine Auswirkungen bis heute sichtbar und spürbar sind. Denn irgendwo hängt es, irgendwo liegt es herum, das Bild, dem Jakob Engelberg und seine 30 Nachfahren ihr Leben verdanken.
Die „Höflichkeit“ der Gestapo
Im November 1938 klopfte es in der Münchner Familienwohnung an der Tür. Zwei Gestapo-Männer in Zivil betraten die Wohnung. Ausgesucht höflich baten sie den jüdischen Kaufmann, seine Sachen zu packen. Man müsse ihn zu seinem eigenen Schutz mitnehmen. Er solle auch an Taschentücher denken, riet ihm einer der Beamten. Engelberg packte rasch seine Sachen.
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Die Tage der Angst
Edward Engelberg spricht in einem Interview mit Follow the Money über die Ereignisse während der Novemberpogrome 1938. Sein Vater Jakob wurde von der Gestapo verhaftet, die Familie blieb traumatisiert zurück.
Dann verabschiedete er sich von seiner Familie. Die fremden Männer, die den Mann holten, verbeugten sich und brachen mit Engelberg auf - in das Konzentrationslager Dachau. Jakobs Sohn Edward, dessen Schwester Melly und die Mutter der beiden, Paula Engelberg, blieben weinend zurück.
Gemäldezwillinge, für immer getrennt
Ursprünglich besaßen die Engelbergs zwei Gemälde des heute fast vergessenen Künstlers Otto Theodor Stein. Das eine hängt in Portland im US-Bundesstaat Oregon, in Edward Engelbergs Wohnzimmer. Es zeigt eine Frau im Halbprofil mit einem aufgeschlagenen Buch auf dem Schoß. Das zweite Bild sah ähnlich aus: dasselbe Motiv, dieselbe Größe, bloß etwas dunkler im Teint, sagte der mittlerweile 87-jährige Edward im Gespräch mit Follow the Money bei einem Besuch in seinem Zuhause.
Es war dieses Gemälde, das Paula Engelberg einige Tage nach der Verhaftung ihres Mannes von der Wand nahm, vor den Augen ihrer Kinder aus dem Rahmen löste und aufrollte. Sie sagte zu Edward und der drei Jahre älteren Melly, dass sie sich ruhig verhalten und niemandem die Tür öffnen sollen. Bei Edward prägten sich diese Details so ein, dass er sie heute noch jederzeit abrufen kann. Die Mutter verließ mit dem Gemälde die Wohnung
Das Martyrium von Insasse 19897
Wenige Stunden später kam sie zurück. Das Gemälde war weg, aber sie hatte ein lebensrettendes Dokument mitgebracht: ein Schweiz-Visum für die ganze Familie. Mit ihm erreichte sie bei der Gestapo die Entlassung ihres Mannes aus der „Schutzhaft“. Die Auflage: Jakob Engelberg musste das Deutsche Reich innerhalb von 48 Stunden verlassen.

Follow the Money (FtM)
Edward Engelberg und das verbliebene Gemälde
15 Tage dauerte das Martyrium von Insasse 19897, untergebracht in Block 8/4 des Konzentrationslagers Dachau. So ist es im Zugangsbuch des KZ verzeichnet. Als Jakob Engelberg nach Hause zurückkehrte, erkannte ihn sein Sohn kaum wieder. Den Kopf kahl, den Blick leer, die Augen müde, so erinnert sich Edward Engelberg, sei sein Vater dagesessen und habe ein Brot mit Orangenmarmelade zum Tee gegessen. Als sie Tags darauf mit dem Zug die Schweizer Grenze passierten, brach Jakob Engelberg in Tränen aus. „Jetzt sind wir sicher“, sagte er zu seinen Kindern. Sie blieben für kurze Zeit in Zürich, dann flohen sie weiter in die USA.
Endlich Gewissheit haben
Heute, 77 Jahre und drei Generationen später, gibt es über 30 Nachfahren von Jakob und Paula Engelberg, eine weit verzweigte Familie, über die ganze USA verstreut. Sie alle sind der Überzeugung, dass sie ihr Leben dem Bild zu verdanken haben. Edward Engelberg will das Bild nicht zurückhaben. Aber er will wissen, was genau damit geschah.
Wer selbst mitmachen oder etwa als Lehrer eine Gruppe von Schülern dazu animieren möchte, der sollte in seinem Smartphone die Nummer +49-157 53 25 78 33 unter dem Namen „Kunstjagd“ in den Kontakten abspeichern und eine Nachricht mit dem Text „Start Kunstjagd“ abschicken. So bleibt man auf dem Laufenden, wie der Stand der Recherchen aussieht, und kann sich selbst einbringen. Zusätzlich gibt es die Kunstjagd-Website samt wöchentlichen Videobeiträgen und einem Blog, die Facebook-Seite von Follow the Money und Berichte der Projektpartner ORF, „Der Standard“, Bayerischer Rundfunk, Deutschlandradio Kultur, „Süddeutsche Zeitung“, „Rheinische Post“ und Schweizer Radio und Fernsehen.
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