Als Figl Österreich freisprach
Zehn Jahre lang hat Österreich um die Wiedererlangung der Souveränität gefeilscht - und damit genug Zeit gehabt, um die Unterzeichnung des Staatsvertrags am 15. Mai 1955 als Inszenierung eines neuen Österreich vorbereiten zu lassen. Das beabsichtigte Bild einer harmonischen „Österreich ist frei“-Glückseligkeit blieb bis heute haften und unterscheidet sich deutlich von den Fakten.
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Inzwischen zum 60. Mal kehren die Bilder wieder: Außenminister Leopold Figl (ÖVP) tritt mit den Außenministern der Alliierten auf den Balkon des Belvedere in Wien, reißt den Staatsvertrag wie eine errungene Sporttrophäe in die Höhe, ruft „Österreich ist frei“, die Masse jubelt, die Minister lachen, die Menge vor dem Balkon auch, es wird Walzer getanzt, alles ist gut. Stimmt aber einfach nicht, beginnend damit, dass die nun wieder in Dauerschleife zu hörenden Worte nicht auf dem Balkon gesprochen wurden.
Ein rätselhafter Exkurs und laute Glocken
Figl sprach den Satz als letzten seiner Rede unmittelbar nach der Unterzeichnung des Staatsvertrags im Saal - und recht unvermittelt nach einem eigenwilligen Exkurs über die „große Tradition der österreichischen Handwerkskunst“, da „dieselbe Firma, die bereits die Verträge des Wiener Kongresses 1815 gebunden hat, auch heute dieses neue Vertragswerk handwerklich ausgestaltet hat“. Über den Exkurs wunderte sich zu dem Zeitpunkt kaum mehr jemand, denn vom geplanten Ablauf war da ohnehin nur noch wenig übrig.
Die Zeremonie war vor allem vom russischen Außenminister Wjatscheslaw Molotow durcheinandergebracht worden, der 24 Minuten lang die Geduld der Anwesenden mit einer Rede strapazierte, die sehr wenig mit Österreich und sehr viel mit dem Kalten Krieg zu tun hatte. Seinen US-Kollegen John Foster Dulles konnte man deshalb kaum verstehen: Alle Glocken in der Stadt, inklusive Pummerin, hatten zum geplanten Ende der Zeremonie um 12.00 Uhr zu läuten begonnen.
Glattes diplomatisches Parkett entschärft
Schon davor war es einigermaßen chaotisch zugegangen. Die Fahrzeugkonvois der Alliierten lieferten sich nachgerade ein Wettrennen zum Belvedere, der „siegreiche“ Sowjetkonvoi ließ sich dann demonstrativ Zeit, weshalb alle Nachfolgenden einander bei der Anfahrt im Weg standen. Im Saal lief es währenddessen kaum besser: Ein Fotograf hatte sich bereits verletzt, als er auf den glatten Böden des Belvedere ausrutschte. Eilig wurden Gummimatten aufgebreitet, damit nicht auch die Minister durcheinanderpurzeln.

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Traditionelle österreichische Handwerkskunst
Ungefähr zu diesem Zeitpunkt war den Zeremonienmeistern der Republik auch aufgefallen, dass mit der Sitzordnung kein Staat zu machen war: Figl wäre ganz an den linken Rand des Tisches gequetscht gesessen, in der „Beisitzerrolle“. Eilig wurde umgestellt, und Figl durfte in der Mitte Platz nehmen. Bei der Gelegenheit fiel außerdem auf, dass man sich bei den Sesseln verzählt hatte, der überzählige zehnte wurde entfernt.
Österreich ist dann bald einmal frei
Dass Österreich am 15. Mai 1955 „frei“ war, stimmte zudem nicht. Figl selbst hatte gerade davor unterschrieben, dass Österreich mit allen Konsequenzen bis zum Ablauf einer Dreimonatsfrist nach Inkrafttreten des Staatsvertrags noch besetzt sei. Der Vertrag trat erst am 27. Juli in Kraft. Plus drei Monate macht 26. Oktober. Österreich hat das Datum seines Nationalfeiertages damit dem Umstand zu verdanken, dass die Alliierten es mit der Ratifizierung des Vertrags nicht wirklich eilig hatten.
Ohnehin waren die Alliierten mit dem Text nur bedingt glücklich, vor allem weil es Österreich gelungen war, die ursprünglich geplante Schlussformel über die Mitschuld der Österreicher an den Nazi-Verbrechen herauszureklamieren. Millionen an Reparationszahlungen und eine Beteiligung der Sowjets an der heimischen Ölförderung waren auch dadurch bedingt. Österreich ließ sich seine „Unschuld“ etwas kosten. Der erkaufte österreichische Opfermythos war geboren.
Wir, die wehrlosen Opfer von Unrecht
Den Opfermythos strapazierten die Vertreter der Republik am 15. Mai bis an die Grenze zur Verlogenheit. Bundespräsident Theodor Körner (SPÖ) sah durch den Staatsvertrag etwa „ein weltgeschichtliches Unrecht, das einem wehrlosen Lande zugefügt wurde, gutgemacht“. Bundeskanzler Julius Raab (ÖVP) lieferte seinerseits eine Vorschau auf die kommende Interpretation der österreichischen Neutralität: „Wir wollen unser eigenes politisches Leben führen und uns nicht kümmern um das anderer Staaten.“
Zumindest waren sich ÖVP und SPÖ im Hinblick auf das neue österreichische Selbstbild einig - darüber, wem der Staatsvertrag zu verdanken sei, umso weniger. Die heutige Bild eines damaligen Schulterschlusses findet keine historische Entsprechung. Am 15. Mai pries etwa die Salzburger SPÖ ihren Vizekanzler Adolf Schärf als Schöpfer des Staatsvertrags, der zum Glück potenziell fatalen Einflüsterungen der ÖVP „noch auf dem Flug nach Moskau“ standgehalten hatte. Mit dem Moskauer Memorandum vom 15. April hatten die Sowjets grünes Licht für den Staatsvertrag gegeben.
Vorarlberg nimmt Vorlieb mit „Beinahe-Schweiz“
Die ÖVP bescheinigte sich selbst: „Unter ihrer Führung ist die Freiheit errungen worden. Unter ihrer Führung wird sie auch bewahrt werden.“ Vorsichtige Töne waren rar. Sie kamen etwa vom Wiener Bürgermeister Franz Jonas (SPÖ), der im Radio warnte: „Wir dürfen uns nie der Einbildung hingegeben, dass unser Wien das Herz von Europa ist.“ Ebenso vorsichtig war die Kärntner SPÖ, die mit Sorge sah, dass Österreich nun wieder eigenes Militär bekommen könnte: Schließlich könne dieses ja wieder gegen die eigenen Bürger eingesetzt werden.

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Figl im Kreis der alliierten Minister und deren Gesandten in Österreich
Ohnehin waren heutige Selbstverständlichkeiten damals einfach noch keine: Das Bundesland Vorarlberg etwa gab am 15. Mai bekannt, dass man nun doch gedenke, bei Österreich zu bleiben, da das österreichische Neutralitätsmodell ja dem Schweizerischen zumindest ziemlich ähnlich sei und vor allem über die Bundesstaatlichkeit gesichert sei, dass Vorarlberg im Wesentlichen weiter tun und lassen könne, was es wolle. Die Schweiz hatte beim Entschluss allerdings nachgeholfen, da sie zuvor demonstratives Desinteresse an den beitrittswilligen Vorarlbergern gezeigt hatte.
Doppelzüngige Komplimente aus Deutschland
Das Ausland wiederum gratulierte zwar artig, ließ dabei aber durchaus Bedenken und eigene Anliegen anklingen. Jugoslawien etwa zeigte sich ebenso wie die Kärntner Slowenen zufrieden darüber, dass Österreich zum Respekt der slowenischen und kroatischen Volksgruppen vertraglich verpflichtet worden sei - nur zur Sicherheit. Heute weiß man, dass sogar Dinge wie zweisprachige Ortstafeln mancherorts noch jahrzehntelang problematisch bleiben sollten.
Überhaupt dominierte in den Reaktionen aus dem Ausland Erleichterung darüber, dass man Österreich ein Bekenntnis zur Neutralität abgerungen hatte - und damit zumindest ein gewisses Maß an Sicherheit, dass Österreich nicht wieder bei nächstbester Gelegenheit dem Willen eines anderen Landes Folge leisten würde. In einer recht zweischneidigen Respektsbekundung gratulierte die deutsche SPD, damals gegen die Teilung des eigenen Landes ankämpfend, der „geschmeidigen österreichischen Diplomatie“.
„Die Menschenmassen flohen nach allen Richtungen“
Was allerdings echt war und dem Bild von heute entsprach, war die Begeisterung weiter Teile der Bevölkerung: Wie nach einer Theatervorführung wurden Figl und die Außenminister nach der Unterzeichnung des Vertrags immer wieder auf den Balkon geklatscht. Molotow ließ sich durch die Begeisterung sogar dazu hinreißen, Kusshändchen in die Menge zu werfen. Der Rest der Feierlichkeiten fiel allerdings ins Wasser: Um etwa 14.00 Uhr begann in Wien ein Wolkenbruch und, so die APA damals, „die Menschenmassen flohen nach allen Richtungen vor dem Regen“.
Die weiteren Feierlichkeiten - eine Messe, Empfänge bei Kanzler und Präsident und schließlich ein Galadiner im Schloss Schönbrunn - litten durch den Regen an schwindender Bürgerbeteiligung. Noch immer fand die APA aber „schaulustige Wiener“, die auch der Regen „nicht davon abhalten konnte, ihre Neugierde zu befriedigen“. Die Staatsgäste bekamen davon nur noch wenig mit. Nachdem wegen des Regens eine Darbietung des Staatsopernballetts im Schönbrunner Schlossgarten abgesagt worden war, beschloss die APA ihre Berichterstattung für den 15. Mai 1955 mit den nicht unbedingt staatstragenden Worten: „Danach begaben sich die Gäste in die kleine Galerie, wo sie einen Mokka einnahmen.“
Lukas Zimmer, ORF.at
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