Neuroleptika für Norman
Film und Wahn: Ein Thema, das so alt ist wie das Kino selbst, und auch im TV hat es Hochkonjunktur. „Bates Motel“ geht schon in der dritten Staffel der Jugend des „Psycho“-Mörders nach. Und in der Brutalo-Komödie „The Voices“ metzelt ein junger Mann, der sich lebhaft mit seinem Hund und seiner Katze unterhält. Was hält ein Psychiater von alldem?
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Freilich - Paulus Hochgatterer ist keine zufällige Wahl für das Gespräch. Er leitet die Kinder- und Jugendpsychiatrie des Landesklinikums Tulln in Niederösterreich. Und er ist ein Schriftsteller, der sich seit jeher essayistisch, in Erzählungen und auch in Krimis mit der Psychiatrie und mit psychischen Erkrankungen auseinandersetzt. Als Cineast hält er an der Filmakademie Wien eine Vorlesung zum Thema „Das Kind im Film“. Mit ORF.at sitzt Hochgatterer gut gelaunt im Literatencafe Engländer in Wien.

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Jerry (Ryan Reynolds) plaudert in Marjane Satrapis „The Voices“ mit seinem Hund, seiner Katze und seiner von ihm selbst geköpften Angebeteten
„The Voices“, den neuen Film der iranisch-französischen Regisseurin Marjane Satrapi, hat er nicht gesehen. Aber schließlich ist die Handlung schnell umrissen: Die Hauptfigur (gespielt von Ryan Reynolds), ein junger, naiv und freundlich wirkender Mann, ist auf Bewährung draußen. Gegen die Auflage, seine Pillen brav zu nehmen, verstößt er. Deshalb streiten sein Hund und seine Katze. Die Katze befiehlt ihm zu morden. Der Hund ist dagegen. Die Katze setzt sich durch. Bald plaudert der Mann nicht nur mit Tieren, sondern auch mit einer Reihe abgetrennter Köpfe.
„Man darf sich lustig machen“
Hochgatterer wurde am Institut des legendären Psychiaters Erwin Ringel sozialisiert, wo ein freigeistiger, linker Wind wehte - zu einer Zeit, als die Stigmatisierung psychisch Kranker endlich aufgebrochen wurde. Ein Film wie „The Voices“ oder auch eine Serie wie der „Kaisermühlen-Blues“, wo man sich über psychisch Kranke lustig macht, müssen für ihn der Horror sein. Oder? Oder.

ORF.at/Simon Hadler
Paulus Hochgatterer
„Man darf sich über psychische Erkrankungen lustig machen. Die sind teilweise lustig. Ich könnte kein guter Psychiater sein, würde ich nicht manchmal total darüber lachen müssen, was mir begegnet. Das hat nicht notwendigerweise mit der Entwertung der Betroffenen zu tun“, sagt Hochgatterer. Im persönlichen Umgang komme es darauf an, ob man eine Beziehung zum Betroffenen aufgebaut habe. Falls ja, sei es gesund, gemeinsam über eine Zwangsstörung zu lachen. Dabei trete der Erkrankte aus sich selbst heraus.
Die „ORF-Fantasiepsychose“
Wenn der Fünfer-Franzi „Bimm Bimm“ ruft und als Straßenbahn herumfährt, sei das eindimensional und grundsätzlich kritisch zu betrachten. Aber selbst hier müsse man differenzieren: „Trägt nicht so eine Figur dazu bei, dass sich manche Leute zumindest nicht mehr fürchten vor Menschen, die anders sind? Ich glaube, es ist besser, man kann lachen über jemanden und fühlt sich dann nicht genötigt, ihn einzusperren.“ So viel zum Lachen als Tabubrecher. Weiter zur Diagnose.
Worunter würde denn der Fünfer-Franzi leiden, gäbe es ihn wirklich? Hochgatterer grinst und muss nicht lange überlegen: an einer „ORF-Fantasiepsychose“. Realistisch sei daran nichts. Und Ryan Reynolds als Killer? Erkrankt an einer „Hollywood-Psychose“. Dass sich eine Schizophrenie als Debattierclub mit zwei Tieren äußert, von denen beide dem Erkrankten Gegensätzliches einflüstern, und sich das Ganze dann auch noch mit einer Serienmörderdynamik kreuzt: Die Wahrscheinlichkeit liege praktisch bei null.

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Anthony Hopkins in „Das Schweigen der Lämmer“
Anthony Hopkins und die Beißermaske
Überhaupt sind es oft reine Fantasieerkrankungen, denen Hochgatterer begegnet, wenn er ins Kino geht oder den Fernseher aufdreht. Der Psychiater sieht darin auch gar nichts Verwerfliches. Entweder ein Film müsse wirklich gut sein im Wiedergeben der Realität - oder sich komplett davon abkoppeln und nur mit Fantasien aus dem Unbewussten arbeiten. Problematisch sei nur das Dazwischen: Filme, die auf Realität machen - aber weit daran vorbeischießen. Als „ärgerliches“ Beispiel nennt Hochgatterer „Shutter Island“ mit Leonardo DiCaprio.
Als „spannend“ hingegen bezeichnet er „Das Schweigen der Lämmer“. Hannibal Lecter - die Anthony-Hopkins-Figur - sei selbstverständlich eine „reine Kunstfigur“ - es gebe keine diagnostische Entsprechung, und die forensische US-Psychiatrie, wie sie im Film dargestellt wird, samt metallener Gesichtsmaske und ebensolchen Käfigen, sei hoffentlich ebenfalls frei erfunden. Ähnlich „Sieben“, wo der Kevin-Spacey-Charakter sieben Menschen wegen ihrer Todsünden umbringt: Die Figur sei einzig und allein an der „Geilheit der Zuschauer nach Drastik“ orientiert.
Die Therapie für Norman Bates
Anders verhält es sich mit Norman Bates: Er sei weitaus näher dran an einer psychiatrischen Realität mit seiner perversen Mutter-Sohn-Beziehung. Das gebe es wirklich: „Söhne - es sind tatsächlich meistens Mutter-Sohn-Beziehungen - die so symbiotisch an ihre Mutter gekettet sind, dass sie die Aggression, die sich im Rahmen dieser Beziehung entwickelt, nicht anders bewältigen können als durch eruptive Gewaltakte.“ Da wackelt der Duschvorhang.

AP
Anthony Perkins als Norman Bates in Alfred Hitchcocks „Psycho“ (1960)
Hochgatterers Diagnose: paranoide Schizophrenie. Hätte Normans Umfeld auf sein seltsames Verhalten reagiert, wäre das Morden zu verhindern gewesen: „Man hätte ihn ordentlich psychiatrisch behandeln müssen. Man hätte ihm wahrscheinlich Neuroleptika verabreicht und eine hochfrequente Psychotherapie angedeihen lassen. Und wahrscheinlich hätte man ihn, um eine dichte Behandlung zu gewährleisten, hospitalisieren müssen.“
Schriftsteller leben gefährlich - im Film
Hochgatterers eigene zwei Krimis mit der Hauptfigur eines Kinderpsychiaters waren höchst erfolgreich - „Die Süße des Lebens“ (2006) und „Das Matratzenhaus“ (2010). Zumindest die nächste Fortsetzung ist bereits fix, erzählt Hochgatterer. Dass die Figur des Kinderpsychiaters darüber hinaus noch lange weiterleben wird, will er nicht versprechen. In dieser Hinsicht sollte der cinephile Schriftsteller gewarnt sein. Ob er nicht die Verfilmung von Stephen Kings „Misery“ gesehen hat, wo ein Fan den Schriftsteller brutal zwingt, eine Figur wiederzubeleben? Hochgatterer erstarrt: „Oh Gott, Kathy Bates. Eine schreckliche Vorstellung!“ Lacht, tritt ab. Vielleicht Richtung Kino.
Simon Hadler, ORF.at
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