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Norman Bates vs. Hannibal Lecter

Im Gespräch mit ORF.at analysiert der Kinderpsychiater und Schriftsteller Paulus Hochgatterer Filme und Filmfiguren. Und er spricht über seine Sozialisation im katholischen Blindenmarkt, über psychisch spannende Lehrer im Gymnasium Amstetten und die Luft der Freiheit, die er bei Erwin Ringel schnupperte.

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Wie kam es zu Ihrem Interesse für die Psyche des Menschen und gleichzeitig für die Literatur? Gab es da biografische Anker?

Paulus Hochgatterer: Wenn man psychotherapeutisch und tiefenpsychologisch ausgebildet wird und Hunderte Stunden auf der Couch liegt, stellt man sich die Frage oft: Was einen am Verrückten, am psychisch außerhalb der Norm Liegenden so anzieht und ob’s nicht vielleicht in der eigenen Geschichte da und dort Erklärungen gibt. Die Antwort ist: ja und nein. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der niemand psychisch krank ist. Es gab viel psychische Stabilität. Hier liegt die Erklärung nicht.

Im Amstettner Gymnasium gab’s manche Lehrer, die als Impulsgeber für das Interesse am psychisch Abwegigen ganz gut taugen würden, ohne dass ich Namen nennen möchte. Ich habe ’79 maturiert. Das war eine Zeit, als alte Nazi-Lehrer ihre letzten Unterrichtsjahre abgedient haben. Aber insgesamt habe ich wohl eine normale Lehrerschaft vorgefunden. Und mein Interesse an der Literatur: Mein Vater war Deutschlehrer, meine Mutter eine sehr belesene Frau. Die Lust an der Lektüre war etwas, das für mich zu Hause immer sichtbar war.

Ein als Leidenschaft erinnerliches Interesse am Psychischen ist dann im Studium entstanden, als ich die Psychobibeln der damaligen Zeit gelesen habe: Alice Millers „Das Drama des begabten Kindes“ und Erich Fromms „Haben oder Sein?“ Das waren Bücher, die aus einer humanistischen Psychologie kommen und sich mit der Frage beschäftigen, warum ein Mensch so wurde, wie er ist.

Ich bin damals am Institut von Erwin Ringel gelandet. Die Person Ringel mit diesem seltsamen, schrillen Charisma hat mich letztlich dort angenagelt. Da ging’s in eine philosophische, kulturaffine und ideologische Richtung. Für mich als braven, katholisch erzogenen Lehrerbuben aus dem Mostviertel war der linke Wind, der durch das Institut geweht hat, schon faszinierend.

Damals war auch die Psychiatriereform gerade aktuell. Über psychisch Kranke nachzudenken hat gleichzeitig geheißen, psychisch Kranke zu befreien. Meinen Zivildienst habe ich in Gugging in der großen Anstaltspsychiatrie gemacht. Das hat dazu beigetragen, dass ich noch viel überzeugter war, dass das neben der Literatur mein Weg ist. Mein zweiter Weg - oder mein erster, das ist immer noch nicht entschieden.

ORF.at: Sowohl die Befreiung der Psychiatrie als auch das linke Gedankengut: Mit diesem Hintergrund müssen sie doch Kinokomödien oder TV-Serien vehement ablehnen, wo man sich über psychisch Kranke lustig macht, nur um möglichst viele Zuschauer zu erreichen.

Hochgatterer: Wenn Sie das so formulieren, dann stimmt das. Ich glaube aber an folgenden Satz: Schau mal, wie viel Humor eine Sache verträgt, dann weißt Du, wie viel sie wert ist. Man darf sich über psychische Erkrankungen lustig machen. Die sind teilweise lustig. Ich könnte kein guter Psychiater sein, würde ich nicht manchmal total darüber lachen müssen, was mir begegnet. Das hat nicht notwendigerweise mit der Entwertung der Betroffenen zu tun.

ORF.at: Wieso nicht? Nehmen wir den Fünfer, den Franzi aus „Kaisermühlen-Blues“. Der zieht durch die Straßen mit seinem „Bimm Bimm“, und die Leute lachen darüber.

Hochgatterer: Die Leute lachen darüber. Man muss sich aber zumindest die Frage stellen: Trägt nicht so eine Figur dazu bei, dass sich manche Menschen zumindest nicht mehr fürchten vor Menschen, die anders sind? Ich glaube, es ist besser, man kann lachen über jemanden und fühlt sich dann nicht genötigt, ihn einzusperren.

Aber wie geht es Menschen, die betroffen sind oder betroffen waren, und deren Angehörigen, wenn über psychische Krankheiten gelacht wird?

Hochgatterer: Es gibt sicher ganz viele Menschen, denen es schlecht geht, wenn über sie selbst undifferenziert gelacht wird. Wenn man über sie lacht, ohne ihnen gleichzeitig eine Beziehung anzubieten. Vor allem bei mir in der Jugendpsychiatrie kommt es in den Visiten oder in der Jugendgruppe ganz oft vor, dass wir gemeinsam lachen. Das ist super. Beispiel, immer wieder erlebt: Wenn ein Jugendlicher mit einer Zwangsstörung, der sich am Tag hundertmal waschen muss, über seinen Zwang lachen kann - gemeinsam mit anderen, die mit ihm in einer Beziehung stehen. Das ist wunderbar.

Über sich selbst lachen heißt, sich auf eine andere Ebene begeben können. Einen Schritt zur Seite machen oder ein Treppchen nach oben gehen. Das heißt, ich schau mir selber dabei zu, wie ich einen Zwang, eine Halluzination habe. Oder dabei, dass ich zwölf Bier am Tag trinken muss. Wenn das gelingt, dass jemand an meiner Seite ist, der mit mir lacht, dann fühle ich mich auch nicht ausgelacht. Natürlich, was den Fünfer betrifft: Das ist schablonenhaft und eindimensional und kritisch zu betrachten. Aber es gibt einen Blickwinkel, aus dem man es positiv sehen kann.

ORF.at: Wie würde man denn die Krankheit des Fünfer-Franzi bezeichnen?

Hochgatterer: ORF-Fantasiepsychose (lacht).

ORF.at: Gibt es oft solche Fantasiepsychosen?<<

Hochgatterer: Ganz oft. Natürlich. Im Film oder in der Erzählung soll das auch so sein. Das muss man differenziert sehen. Es gibt Filme, die den Anspruch stellen, die Wirklichkeit darzustellen. Zum Beispiel die psychische Wirklichkeit eines psychisch kranken Menschen oder der Anstaltspsychiatrie ...

ORF.at: ... wie Sie das in Ihren Romanen tun.

Hochgatterer: Ja, wobei ich den Anspruch an mich stelle, dass ich mich auskenne, weil ich täglich dort bin. In der Darstellung der Psychiatrie mache ich hoffentlich keine Fehler. Aber in Hollywood ... Nehmen wir den Film „Shutter Island“ mit Leonardo DiCaprio: Da wird schon mit Nachdruck der Anspruch gestellt, Psychiatrie in einem historischen Sinn sehr wirklichkeitsnahe darzustellen. Das funktioniert dort überhaupt nicht. Und da wird es für mich problematisch und ärgerlich.

Wenn psychische Erkrankungen im Film oder in der Literatur so dargestellt werden, dass man das Gefühl hat, es geht nicht um die Realität, dann habe ich weniger ein Problem damit. Dann haben der Film oder das Buch in Wahrheit mit unser aller Fantasmen zu tun. Sie bilden ab, was sich in unseren Köpfen unbewusst abspielt. Dann hat es sogar eine Berechtigung, einen psychisch Kranken falsch darzustellen.

ORF.at: Eine gesamtgesellschaftliche Psychohygienemaßnahme?

Hochgatterer: Ja, oder als ein Mechanismus, der zeigt, dass alles wichtig ist, was sich in unserem Kopf abspielt.

ORF.at: Ist es eine Urangst des Menschen, psychisch krank zu werden, den Verstand zu verlieren?

Hochgatterer: Das ist eine Urangst. Aber so habe ich es nicht gemeint. Ich glaube nicht, dass diese Dinge dargestellt werden, um sie loszuwerden. Ich glaube, dass man diese Dinge darstellt, um sie zu behalten. Unlängst habe ich wo gelesen, dass es in der Entwicklung der Menschheit in erster Linie um einen Vorgang geht: die Zähmung. Auch in den Frühzeiten der Psychiatrie und der frühen Darstellung psychischer Krankheiten ging es um Zähmung.

Indem man sie in ein Narrativ bringt, macht man sie handhabbar und zähmt sie damit. Auf der anderen Seite glaube ich, dass, in einer Zeit, in der einem alles wegerklärt wird, was es an Magischem, schwer Bewältigbarem, Geheimnisvollem gibt, dass es in so einer Zeit das zumindest gleich starke Bedürfnis gibt, sich solche Dinge zu behalten. Eine Halluzination hat einfach etwas Faszinierendes.

Jeder Zehnte hat irgendwann in seinem Leben eine Halluzination. Man fragt sich: Warum hat man sie noch nicht gehabt? Es wäre doch an der Zeit. Das ist ganz ambivalent. Man will nicht psychisch krank werden. Auf der anderen Seite hat das Verrückte auch etwas Anziehendes. Den Kontrollverlust zuzulassen. Dinge zu erleben, die andere nicht erleben.

ORF.at: Ein großer, belasteter Begriff ist „das Böse“, er führt in die zweite filmische Wahrnehmung psychisch Kranker - als Serienmörder. Aus der Sicht der Wissenschaft: Gibt es das Böse? Oder ist es automatisch eine Krankheit, wenn jemand tötet?

Hochgatterer: Das ist eine heikle Frage, die je nach Sparte unterschiedlich behandelt wird. Die Forensiker, die mit der Begutachtung von Straftätern zu tun haben, die haben eine klare Abwägung, wann jemand für seine Taten verantwortlich ist und wann nicht. Aber das ist immer eine Frage von fachlicher und gesellschaftlicher Übereinkunft. Wenn man tief genug gräbt, nicht nur biografisch, sondern auch genetisch, findet man für jede deviante, abweichende Persönlichkeit auch eine Erklärung. Nur fehlt einem in der Regel Zeit, Geduld und Interesse, tief genug zu graben.

Das Böse ist eine moralische Kategorie, Konvention, und hat in der Psychiatrie nichts verloren. Es gibt Menschen, die in einer sehr gelassenen, hochprofessionellen Weise mit ganz gefährlichen Straftätern psychotherapeutisch und psychiatrisch arbeiten. Wenn man die nach dem Bösen in diesen Menschen fragt, finden sie es wahrscheinlich nicht, dafür aber irgendeine Form von Erklärung für ihr Verhalten.

ORF.at: Das führt uns weiter zur Fiktion: zum Film „Sieben“, wo die Hauptfigur je einen Menschen tötet, der eine der sieben Todsünden begangen hat. Welche Krankheit hat der Mörder?

Hochgatterer: Die Kevin-Spacey-Figur des John Doe leidet eindeutig an einer Hollywood-Psychose (lacht), sonst gar nichts. Das ist eine Figur, die eine einzige Grundlage hat: die Geilheit des Zuschauers nach Drastik. Auf Basis der ersten Todsünde wird gemordet. Brad Pitt spielt den Ermittler, der herausfindet, dass es um die Todsünden geht. Dann weiß man: Es werden wohl insgesamt sieben Morde werden müssen. Um nichts anderes geht es. Das hat mit psychiatrischer Realität überhaupt nichts zu tun.

ORF.at: Anderes Beispiel: „Psycho“, Norman Bates. Ist ihnen der Film in Erinnerung?

Hochgatterer: Natürlich. Norman Bates ist weitaus näher an einer psychiatrischen Realität. Hier ist es eine bizarre bis perverse Mutter-Sohn-Beziehung, die im Hintergrund der Persönlichkeit steht. Norman Bates ist eine Figur, bei der ich mir vorstellen könnte, dass es sie wirklich gibt. Natürlich: Die mumifizierte Mutter ... Na ja. Aber so grundsätzlich gibt es ähnliche Konstellationen: Söhne - es sind tatsächlich meistens Mutter-Sohn-Beziehungen - Söhne, die so symbiotisch an ihre Mutter gekettet sind, dass sie die Aggression, die sich im Rahmen dieser Beziehung entwickelt, nicht anders bewältigen können als durch eruptive Gewaltakte.

ORF.at: Wie heißt diese Krankheit?

Hochgatterer: Norman Bates hätte aus dem psychiatrischen Diagnosekatalog wohl eine paranoide Schizophrenie.

ORF.at: Wie würde man Norman Bates heilen können?

Hochgatterer: Man hätte ihn ordentlich psychiatrisch behandeln müssen. Man hätte ihm wahrscheinlich Neuroleptika verabreicht und eine hochfrequente Psychotherapie angedeihen lassen. Und wahrscheinlich hätte man ihn, um eine dichte Behandlung zu gewährleisten, hospitalisieren müssen.

ORF.at: Das heißt, hätte sein Umfeld auf Normans seltsames Verhalten reagiert, wäre das Morden zu verhindern gewesen?

Hochgatterer: Dann hätte das Morden nicht stattfinden müssen.

ORF.at: Und Anthony Hopkins in „Das Schweigen der Lämmer“?

Hochgatterer: Hannibal Lecter ist eine totale Kunstfigur. Spannend, ja. Aber ich hoffe, dass der Film nicht an die forensische Realität der Psychiatrie in den USA andockt. Dass es keine Käfige und Masken vor dem Gesicht gibt. Und auch die Art der Persönlichkeit dockt nicht an die Realität an.

Filme, die das momentane psychiatrische Modethema Autismus behandeln, docken hingegen oft an die Realität an. Die sind sehr korrekt - aber meistens langweilig. Ich fürchte, dass psychische Krankheiten in der Realität nicht so spannend sind, wie man es im Film gerne hätte.

Das Gespräch führte Simon Hadler, ORF.at

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