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Der Eisverkäufer und seine neuen Songs

Als Blur vor wenigen Monaten bekanntgegeben haben, dass sie das erste Album seit 2003 herausbringen werden, war die Überraschung groß. Seit 2009 traten sie zwar bei großen Sport- und sonstigen Events miteinander auf, und es gab sogar eine kleinere Tournee. Aber eigentlich bewegten sich alle musikalisch längst auf Solopfaden.

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Als ob man beweisen müsste, dass es tatsächlich wahr ist, hat die Band „The Magic Whip“ nun sogar Tage vor dem Verkaufsstart zum kostenlosen Streaming auf iTunes freigegeben. Die Kritiken in Großbritannien, aber auch im deutschsprachigen Feuilleton, ergehen sich seither in Superlativen, die in diesem Maß ungewöhnlich sind, auch wenn die Branche von jeher dazu neigt, Kulturprodukte entweder hochzujubeln oder zu verdammen - mit wenig Raum für ruhige Berichterstattung dazwischen.

Warum die gar so große Freude? Weil bei der „zufälligen“ Studiosession in Hongkong, die während einer unerwarteten Tourneepause zustande gekommen war, etwas tatsächlich Sensationelles entstanden ist. Man kann das Album mögen oder nicht. Aber es hört sich an, als ob es ein, zwei Jahre nach seinem Vorgänger produziert worden wäre. Die Songs sind kein Bruch mit der Vergangenheit, aber auch nicht ihre Reproduktion. Darin liegt die Sensation.

Der neue alte Sound

Wenn erfolgreiche Bands oder Musiker nach langer Pause Alben aufnahmen (und auf die 50 zugehen), versuchen sie meist, 15 versäumte Jahre der musikalischen Weiterentwicklung in einem einzigen Album nachzuholen. Mit viel zu viel Geld fürs „Überproduzieren“ des Sounds. Oder: sich einfach selbst zu kopieren. Aber ein neues Blur-Album, über das man sich als geneigter Hörer 2004 genauso gefreut hätte wie heute - das kommt einem Alleinstellungsmerkmal gleich.

Blur-Sänger Damon Albarn

AP/Invision/John Shearer

Blur-Sänger Damon Albarn

Eine Weiterentwicklung hat stattgefunden. Man könnte „The Magic Whip“ so beschreiben: Songs aus allen Schaffensphasen der Band (leichte Tendenz Richtung letztes Album „Think Tank“) mit einem Schuss The Good, The Bad and The Queen - dem 2005 gegründeten Bandprojekt von Albarn. Die Platte funktioniert trotz der Verschiedenartigkeit der Songs - vieles ist dabei, von programmatischen, kraftvollen Songs wie „Ice Cream Man“ über melancholische Nummern wie „Mirrorball“ bis hin zum gut gelaunten Psycho-Surf-Rock „Broadcast“ (an MGMT erinnernd).

Die Produktion hört sich gedämpft an, als wäre sie in einem kleinen, mit schwerem, rotem Samt ausgekleideten Nachtclub aufgenommen worden. Würde man sich dann noch fünf jeansbejackte junge Musiker mit Mod-Frisuren samt ihren Instrumenten darin vorstellen, halb besoffen, wäre das Britpop-Klischee perfekt.

„Eine grüne Welle erwischt“

Graham Coxon, der Blur 2002 auf dem Höhepunkt ihres Welterfolges „wegen künstlerischer Differenzen“ verließ, ist jedenfalls selbst ganz ergriffen von der Entstehung des Albums: „Es war ein bisschen so, als wenn man nach Hause fährt und eine grüne Welle erwischt. Als ob dieses Album unbedingt gemacht werden musste.“ Der Gitarrist sagte dem „New Musical Express“ („NME“) zudem, dass er die treibende Kraft hinter der ersten Blur-Studioplatte in Originalbesetzung seit 1999 („Think Tank“ war ohne Coxon fertiggestellt worden) gewesen war.

Die Songs waren damals nicht zu Ende ausgearbeitet - die Session war mehr Zeitvertreib und Fingerübung gewesen. Die Musiker widmeten sich ja längst ihren Solokarierren. Bassist Alex James stellt auf seinem Bauernhof preisgekrönten Käse her (bester britischer Ziegenkäse 2011). Vielleicht noch erfolgreicher war Sänger Albarn mit seiner Comicband Gorillaz („Feel Good Inc.“), viel Respekt brachten ihm jedoch auch The Good, The Bad & The Queen („History Song“) ein. Erst im Vorjahr veröffentlichte er sein Solodebüt „Everyday Robots“ mit fein ziselierten, artifiziellen Songs.

„Pain in the arse“ mal zwei

Es war ausgerechnet der für seine Impulsivität und Streitlust bekannte Coxon, der nicht locker ließ. Er hatte die Aufnahmen von Hongkong aufbewahrt und bearbeitete sie mit dem langjährigen Blur-Wegbegleiter und Produzenten Stephen Street. Albarn erklärte sich bereit, wieder den Sänger und Songtexter zu geben. Dass die beiden sich wieder verstanden, war die Bedingung für das Gelingen des Projekts.

Das Albumcover von "The Magic Whip"

Blur

„The Magic Whip“: Bereits jetzt kostenlos im Stream, ab Freitag offiziell erhältlich

Gegenüber dem „NME“ sagte Coxon: „Damon und ich haben wegen dieser neuen Platte mehr Respekt voreinander - und wir schämen uns auch nicht, uns das öffentlich auszurichten. Aber wir haben natürlich eine gemeinsame Vergangenheit, in der unsere Freundschaft, wie das bei Bands eben oft so ist, viel durchgemacht hat. Wir haben diese Freundschaft auf die Probe gestellt und einander oft im Stich gelassen. Die Platte war unsere Art zu sagen: Sorry, dass ich zwanzig Jahre lang so ein ‚pain in the arse‘ war.“

Albarn stimmte dem zu und ergänzte, dass es purer Wahnsinn gewesen wäre, die Beziehung endgültig zu beenden. Damals, als sie sich 2003 getrennt hatten, seien sie „zu jung und dumm“ gewesen, um zu begreifen, wie wichtig die Band sei. Aber jetzt ist er ja wieder zurück, der musikalische Eiscremeverkäufer der Generation 35+, mit einer neuen Sorte im Gepäck - wie Albarn im Song „Ice Cream Man“ singt: „Something new. Here comes the ice cream man with his magic whip. You better come and get it quick.“

Simon Hadler, ORF.at

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