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NGOs orten gravierende Rückschritte

Die EU sieht sich angesichts der Flüchtlingstragödien im Mittelmeer dem Zorn humanitärer und Menschenrechtsorganisationen ausgesetzt. Besonders in der Kritik steht der faktische Kurswechsel in der Frage des Umgangs mit hilfe- und asylsuchenden Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten.

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Dabei geht es um zwei völlig verschiedene EU-Flüchtlingsmissionen, wobei die aktuelle ein völlig anderes Ziel hat als die alte: Zuerst gab es die italienische Seerettungsoperation „Mare Nostrum“, welche die EU 2014 auslaufen ließ. Der Nachfolger stellt jedoch in den Augen vieler Menschenrechtler einen Rückschritt im Umgang mit Flüchtlingen dar: Die Mittelmeer-Mission „Triton“ wird von der EU-Grenzschutzorganisation Frontex geleitet.

Grenzschutz kommt vor Rettung

Doch es gibt einen bedeutenden Unterschied in der Ausrichtung der beiden Missionen: Denn anders als „Mare Nostrum“ dient „Triton“ weniger der Rettung von Flüchtlingen, sondern vorrangig dem Schutz der EU-Außengrenze. In diesem Umstand liegt die Kritik von NGOs begründet. Amnesty International beschuldigte die EU zuletzt, das Leben Tausender Flüchtlinge zu gefährden, indem sie „Mare Nostrum“ auslaufen ließ.

Afrikanische Migranten verlassen unter Polizeiaufsicht ein Boot der italienischen Marine

APA/EPA/Giuseppe Lami

Überlebende der Flüchtlingstragödie mit 400 Toten bei der Ankunft in Reggio Calabria am Südzipfel Italiens

Ein Blick auf die jüngsten Flüchtlingsdramen auf hoher See zeigt: Es gibt im laufenden Jahr weit mehr Tote als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Doch nicht nur die Ausrichtung der Mission ist eine Erklärung dafür, sondern auch die deutliche Reduktion des finanziellen Aufwands. Die Frontex-Mission verfügt über ein monatliches Budget von 2,9 Millionen Euro, das ist weniger als ein Drittel dessen, was für „Mare Nostrum“ aufgewendet wurde.

„Nicht den Anspruch, ‚Mare Nostrum‘ zu ersetzen“

Bei „Mare Nostrum“ fingen die Rettungsboote der italienische Marine verunglückte bzw. zu verunglücken drohende Flüchtlinge bereits unweit der libyschen Küste auf. Das Mandat der Frontex-Mission sieht anders aus: Der Grenzschutz geschieht näher an der italienischen Küste. „Aufgrund der unterschiedlichen Mandats hat ‚Triton‘ nicht den Anspruch, ‚Mare Nostrum‘ zu ersetzen“, sagte Frontex-Sprecherin Izabella Cooper zuletzt im „Guardian“.

„Unser Fokus liegt auf der Grenzkontrolle, aber gleichzeitig hat auch die Rettung von Leben Priorität“, so Cooper. 5.000 der 18.000 heuer in Italien ankommenden Flüchtlinge seien über Boote der „Triton“-Mission gerettet worden. Sie verwies auf den Umstand, dass viele Einsätze weit von der italienischen Küste entfernt und nahe Grenze zu Libyen stattfinden würden. Zum Vergleich: Im Zuge der „Mare Nostrum“-Mission wurden seit deren Beginn im Oktober 2013 laut Zahlen des NGO-Flüchtlingsnetzwerks ECRE mit Sitz in Brüssel insgesamt 140.000 Flüchtlinge gerettet.

Hier setzt auch die NGO-Kritik an: Jean-Francois Dubost, bei Amnesty in Paris zuständig für Flüchtlingsfragen, sagte, „Mare Nostrum“ habe die Rettung von 170.000 Menschen ermöglicht. Indem die EU gefordert habe, dass die Mission beendet und durch eine Überwachungsmission ersetzt werde, habe sie sich von ihrer Verantwortung losgesagt und den Tod Tausender Menschen in Kauf genommen.

Italien wirft EU unzulängliche Hilfe vor

Auch das offizielle Italien wirft der EU unzulängliche Unterstützung im Umgang mit der Flüchtlingswelle aus Libyen vor. „Die Rettungsaktion im Mittelmeer lastet mit bis zu 90 Prozent auf unseren Schultern“, sagte Italiens Außenminister Paolo Gentiloni am Donnerstag. „Italien muss de facto für alle Operationen aufkommen. Die Flüchtlingswelle ist ein europäisches Problem, Abhilfe schaffen aber nur wir Italiener. Etwas funktioniert nicht.“

Die EU gebe lediglich drei Millionen Euro für „Triton“ aus, betonte Gentiloni im Interview mit der Mailänder Tageszeitung „Corriere della Sera“. Italien verlange mehr Geld und mehr Klarheit darüber, wohin die geretteten Flüchtlinge gebracht werden sollen. „Wohin sollen die Flüchtlinge? Zum nächsten sicheren Hafen? Zum Herkunftsland des Schiffes, das sie rettet? Die EU muss eine klare Antwort geben.“

EU-Kommission überlegt Aufstockung von Frontex

„Derzeit hat die Kommission weder das Geld noch die politische Rückendeckung, um ein europäisches Grenzschutzsystem auf den Weg zu bringen, das Such- und Rettungsoperationen durchführen könnte“, sagte eine Sprecherin am Donnerstag. Die Brüsseler Behörde untersuche aber, ob eine Aufstockung der Ressourcen der EU-Grenzschutzagentur Frontex „machbar oder wünschenswert“ sei.

Viele Experten fordern in diesem Zusammenhang auch den Aufbau von Flüchtlingseinrichtungen in den Herkunftsländern. Nur das könnte viele Flüchtlinge von der lebensgefährlichen Passage mit Schlepperbooten abhalten. Zusätzlich würde es den Flüchtlingen bessere Rechtssicherheit geben. Gleichermaßen rief auch Italien die EU am Donnerstag zu Initiativen gegen den Menschenhandel auf. Auch am Aufbau von Flüchtlingseinrichtungen in den an Libyen grenzenden Ländern führe kein Weg vorbei, sagte Außenminister Gentiloni.

Appell der UNO

Zuletzt appellierte auch die UNO an die EU, mehr für die Rettung der Flüchtlinge zu tun und die Rettungseinsätze im Mittelmeer zu verstärken. Dass laut Berichten möglicherweise erneut Hunderte von Menschen auf der Flucht ertrunken sind, demonstriere, „wie wichtig eine robuste Seenotrettung im zentralen Mittelmeer ist“, sagte der UNO-Hochkommissar für Flüchtlinge, Antonio Guterres, jüngst in Beirut.

Es sei bedauerlich, dass die italienische Operation „Mare Nostrum“ zur Rettung schiffbrüchiger Flüchtlinge ohne hinreichenden Ersatz ausgelaufen sei. „Das UNO-Flüchtlingshilfswerk appelliert an alle Regierungen der betroffenen Region, der Rettung von Menschenleben Priorität einzuräumen“, sagte Guterres laut einer UNO-Mitteilung. Dazu gehöre dringend die Verbesserung der Kapazitäten für Such- und Bergungsoperationen.

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