Marsch führte an Tatort vorbei
Zehntausende Menschen haben am Sonntag mit einem Trauermarsch in Moskau an den ermordeten Kreml-Kritiker Boris Nemzow erinnert. Mitorganisator Alexander Riklin schätzte die Zahl der Teilnehmer in Moskau auf mehr als 70.000, die Polizei sprach von mehr als 16.000 Demonstranten.
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Auf Plakaten waren Slogans wie „Er starb für die Zukunft Russlands“ und „Er kämpfte für ein freies Russland“ zu lesen. Ein Transparent mit der Aufschrift „Helden sterben nie - diese Kugeln gelten uns allen“ führte den Demonstrationszug an.
„Was ist aus Russland geworden?“
Am Tatort legten viele trauernde und weinende Menschen Blumen und Heiligenbilder nieder. „Was ist aus Russland geworden?“, fragte Oppositionsführer und Ex-Regierungschef Michail Kasjanow im Radiosender Echo Moskwy. Die Tragödie um Nemzow zeuge davon, dass die Aggression in Russland zunehme. Der Marsch führte unterhalb des Kreml über die Brücke über die Moskwa, auf der Nemzow am Freitag kurz vor Mitternacht von mehreren Kugeln in den Rücken getroffen worden war - die Ermordung des prominenten Dissidenten hatte weltweit Bestürzung ausgelöst.

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Trauerzug in Moskau: „Helden sterben nie“
„Sie haben ihn dafür getötet“
Auch in Russlands zweitgrößter Stadt St. Petersburg versammelten sich nach Schätzungen der Nachrichtenagentur AFP mindestens 6.000 Demonstranten im Gedenken an den 55-jährigen Kritiker von Präsident Wladimir Putin. Einige Demonstranten waren in ukrainische Fahnen gewickelt. „Ich trage die ukrainische Flagge, weil Nemzow für ein Ende des Krieges in der Ukraine gekämpft hat. Sie haben ihn dafür getötet“, sagte der Demonstrant Wsewolod Nelajew.
Ursprünglich hatte die Opposition für Sonntag eine Großkundgebung gegen die Ukraine-Politik Putins geplant, diese wurde aber nach der Ermordung Nemzows abgesagt. Der 55-Jährige hatte wenige Stunden vor dem Attentat in einem Radiointerview zur Teilnahme an der Kundgebung aufgerufen. Zudem warf er Putin erneut eine „unsinnige Aggression gegen die Ukraine“ vor und forderte den Rücktritt des Präsidenten.

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Zehntausende Menschen nahmen an dem Trauermarsch teil
"Um das Land in Ordnung zu bringen und die Krise zu bewältigen, sind wirkliche politische Reformen erforderlich“, sagte Nemzow in dem Gespräch. Konkret seien etwa faire Wahlen nötig. „Die Zensur muss beendet werden, um diese elende Lügenpropaganda zu stoppen, die der russischen Bevölkerung den Verstand verdreht hat“, sagte er.
Spur ins rechtsextreme Milieu?
Nemzow, der unter Präsident Boris Jelzin in den 90er Jahren als Vizeministerpräsident diente, soll überdies an einem Bericht über die Beteiligung Russlands am Ukraine-Konflikt gearbeitet haben. Die Ermittler sehen in Nemzows Kritik an der russischen Ukraine-Politik ein mögliches Tatmotiv. Aus Polizeikreisen verlautete, eine Spur führe ins rechtsextreme Milieu. Weggefährten Nemzows warfen der Regierung vor, Stimmung gegen prowestliche Oppositionelle zu machen.

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Der Tatort in Sichtweite des Kreml und der Basilius-Kathedrale kurz nach der Ermordung
Putin verurteilt Mord als „Provokation“
Der Kreml bezeichnete die Tat als eine gegen die Regierung gerichtete „Provokation“. Das Ermittlungskomitee nannte den Mord einen „Versuch zur Destabilisierung der politischen Lage im Land“. Putin versicherte in einem Brief an Nemzows Mutter, es werde alles getan, um „die Organisatoren und Täter dieses hinterhältigen und zynischen Mordes“ zu bestrafen. Die russischen Behörden gehen von einem Auftragsmord aus und setzten am Sonntag eine Belohnung von drei Mio. Rubel (43.500 Euro) für Hinweise, die zur Aufklärung des Verbrechens führen, aus.
Überwachungsvideo veröffentlicht
Der Moskauer Fernsehsender TWZ veröffentlichte unterdessen ein Überwachungsvideo vom Ort und zur Zeit der Tat. In der Aufnahme ist nach Darstellung des Senders zu sehen, wie sich Nemzow mit seiner Begleiterin am Freitag gegen 23.30 Uhr (21.30 Uhr MEZ) auf der Brücke bewegt und von einem Mann verfolgt wird. Eine Kehrmaschine verdeckt dann die Sicht auf das Paar und den Mann. Wenig später ist zu sehen, wie der mutmaßliche Täter in ein Auto steigt und flieht. Etwa zehn Minuten danach kommt die Polizei.
Nemzows Begleiterin blieb unverletzt. Die aus der Ukraine stammende Frau halte sich derzeit bei einem Bekannten von Nemzow in Moskau auf und stehe unter Polizeischutz, sagte ein Anwalt. Es handle sich um eine wichtige Zeugin, sie werde derzeit von den Behörden befragt. Die Frau wolle so bald wie möglich nach Kiew zurückkehren, teilte die ukrainische Regierung mit. Das ukrainische Außenministerium rief Russland inzwischen auf, ihr die Ausreise zu erlauben.
Rasche Aufklärung gefordert
International löste der Mord Bestürzung aus. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel forderte ebenso wie UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon eine schnelle Aufklärung des Verbrechens. Auch US-Außenminister John Kerry drängte am Sonntag auf eine „gründliche und transparente“ Untersuchung. Dabei gehe es nicht nur darum, „wer die Schüsse abgefeuert hat“, sondern auch darum, ob jemand den Mord angeordnet habe, sagte Kerry dem Fernsehsender ABC.
Ukrainischer Abgeordneter wieder frei
Ein kurz vor dem Trauermarsch festgenommener ukrainischer Abgeordneter ist unterdessen vorerst wieder auf freiem Fuß. Alexej Gontscharenko sei aus dem Polizeigewahrsam entlassen worden, teilte sein Anwalt am Sonntagabend in der russischen Hauptstadt mit. Er müsse aber am Montag vor Gericht erscheinen, ihm drohe eine erneute Festnahme.
Gontscharenko hatte am Sonntag auf seiner Facebook-Seite mitgeteilt, er sei festgenommen worden, weil er ein T-Shirt mit dem Porträt Nemzows und dem Slogan „Helden sterben nicht“ getragen habe. Er habe zu dieser Zeit keine Parolen gerufen und auch kein Plakat und keine Fahne getragen, versicherte er. Gontscharenko gehört zum Block des proeuropäischen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko.
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