Themenüberblick

Widerstand als „politischer Selbstmord“

Recep Tayyip Erdogan hat, seit er vom Premier- auf den Sessel des türkischen Präsidenten gewechselt ist, seine Macht Stück für Stück weiter ausgebaut. Konzentrierten sich die bisherigen Staatschefs vorwiegend auf repräsentative Aufgaben, ließ Erdogan von Anfang an keine Zweifel daran, dass er den Posten aktiver gestalten will. Das stößt nicht nur außerhalb der Türkei auf Kritik.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.

Der Traum von einer „neuen Türkei“, wie er von Erdogan mehrfach proklamiert wurde, gehe zulasten der Demokratie, wirft ihm die Opposition vor. „Die islamisch-konservative AKP von Präsident Erdogan hat in den Jahren nach ihrem ersten Wahlsieg 2002 weitreichende Reformen durchgeführt. Damals wurde mit der Aussicht auf Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU etwa eine Justizreform beschlossen oder der Einfluss des Militärs zurückgedrängt. Die Rechte von Minderheiten wurden gestärkt“, sagt Jörg Winter, ORF-Korrespondent in Istanbul. Allerdings sei der Reformeifer in liberal-westlicher Auslegung zum Stillstand gekommen.

„Stellt wichtige demokratische Institutionen infrage“

„Präsident Erdogan stellt wichtige demokratische Institutionen infrage und will das Amt des Staatspräsidenten, dessen reale Macht laut türkischer Verfassung beschränkt ist, massiv ausweiten“, so Winter. Das zeigte sich zuletzt deutlich an der Tatsache, dass Erdogan eine Regierungssitzung leitete. Zwar ist verfassungsrechtlich gedeckt, dass anstelle des Premiers der Präsident eine Kabinettssitzung leitet, das Recht wurde bisher jedoch praktisch nicht bzw. nur in Ausnahmefällen genutzt.

Der Kommentator Murat Yetkin schrieb in der Zeitung „Hürriyet Daily News“, früher hätten Präsidenten nur auf Einladung des Ministerpräsidenten oder nur bei schweren internationalen Krisen Kabinettssitzungen geleitet. „Das heute ist anders“, schrieb Yetkin. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu habe einfach akzeptiert, dass es „Erdogan ist, der das Land führt“. Im Kabinett, so zitierte der „Hürriyet“-Journalist Fehim Tastekin eine Quelle aus Ankara, gebe es bereits Unsicherheiten darüber, wer Ansprechpartner sei und „mit wem sie über Entscheidungen beraten sollen“.

Erdogan - als erster Präsident direkt ins Amt gewählt - hat aber auch innerhalb des Kabinetts von Davutoglu Vertraute. Als dem Präsidenten loyal gelten der stellvertretende Premier Yalcin Akdogan, Chefverhandler im Friedensprozess mit den Kurden, Innenminister Efkan Ala und Justizminister Bekir Bozdag. Auch Geheimdienstchef Hakan Fidan wird dem Kreis der nächsten Erdogan-Vertrauten zugeordnet.

Schattenkabinett im Präsidentenpalast?

Von der Opposition wird ihm vorgeworfen, nach und nach autokratische Tendenzen zu zeigen, etwa, indem er sein eigenes Schattenkabinett aufbaue, das die Macht der Regierung untergraben soll. In den vergangenen Monaten wurden die dem Staatspräsidentenamt und damit Erdogan zugeordneten Abteilungen von vier auf 13 aufgestockt. Neu sind Schlüsselabteilungen für innere Sicherheit, Außenpolitik, Wirtschaft, Energie und Verteidigung. Sie alle sind im luxuriösen „Weißen Palast“ mit seinen 1.150 Zimmern angesiedelt und überwachen die Schritte der zuständigen Minister.

Widerstand „öffentlich kaum wahrnehmbar“

Bisher geht Davutoglu nicht offen in Konfrontation zum Staatspräsidenten. „Der Widerstand in seiner eigenen Partei gegen den zunehmend autokratisch regierenden Präsidenten ist öffentlich kaum wahrnehmbar“, so Istanbul-Korrespondent Winter. Davutoglu sei „politisch schwach“, und Erdogan lasse keinen Zweifel: „Widerstand gegen ihn kommt in der heutigen Türkei einem politischen Selbstmord gleich.“ Deutlich zu sehen ist das anhand der vielen Ver- oder Absetzung und Verfolgung von Staatsanwälten, Richtern und Polizisten. Mitte Jänner wurden in 21 Provinzen die Posten des Polizeichefs neu besetzt.

Winter sieht den angestrebten Wandel nicht nur auf innenpolitischer Ebene - Erdogan zeigt auch in der Außenpolitik kaum Ambitionen, die Themenführerschaft aus der Hand zu geben. „Außenpolitisch will Erdogan die Türkei neu positionieren, nicht mehr als fixen Bestandteil von Europa, sondern als islamische Führungsmacht, die im Westen Einfluss hat und Gehör findet.“

Spannung vor Parlamentswahl

Spätestens bei der Vorbereitung der Kandidatenlisten für die Parlamentswahl im Juni könnte sich jedoch der Widerstand aus der AKP mehren und sich Davutoglu offensiver verhalten, glauben Beobachter, dann nämlich, wenn Erdogan anstelle von AKP-Chef Davutoglu die Listenplätze bestimmen will. Mit der Parlamentswahl soll die Herrschaft seiner AKP bestätigt werden.

Erdogan liebäugelt mit Verfassungsänderung

Mit Spannung wird erwartet, wie viele Parlamentssitze die AKP bei der Wahl erringt. Sind es mehr als 330 der 550 Mandate, kann die Regierungspartei die Verfassung ändern, um ein Präsidialsystem einzuführen. Eine satte AKP-Mehrheit wird durch die hohe Barriere von zehn Prozent für Parlamentsparteien gestützt. Wenn diese fällt, würde das zulasten der AKP, aber auch der großen Oppositionsparteien gehen. Kleine Splitterparteien und die prokurdische HDP wären die Gewinner einer solchen Entwicklung.

Eine Klage, dass die Sperrminorität nicht gesetzeskonform ist, ist beim Verfassungsgerichtshof anhängig. Eine Entscheidung darüber soll laut dem Präsidenten des Verfassungsgerichtshofes, Hasim Kilic, „so schnell wie möglich“ gefällt werden, schrieb die linksnationale Zeitung „Sözcü“. Doch aus AKP-Kreisen hieß es bereits, dass man die Gerichtsentscheidung ignorieren werde.

Ungewohnt deutlicher Gül-Aufruf zu mehr Demokratie

Ungewohnt scharfe Kritik äußerte kürzlich Erdogans Parteigefährte und Vorgänger als Präsident, Abdullah Gül. Politische Stabilität beruhe nicht nur auf parlamentarischen Mehrheiten, sagte Gül laut „Hürriyet“ bei einem Treffen mit früheren Ministern und Abgeordneten in Istanbul. Er forderte mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Zudem wandte er sich gegen Erdogans Pläne zur Einführung eines Präsidialsystems. Wenn die Türkei einen Systemwechsel brauche, dann müsse dieser darin liegen, den Einfluss der Exekutive auf das Parlament zu verringern, sagte Gül dem Bericht zufolge. Mit dieser Forderung nach einer Stärkung des Parlaments stellte sich der Ex-Staatschef gegen das Ziel Erdogans, dem Präsidentenamt die zentrale Rolle im politischen System zuzuschanzen.

Gül und Erdogan sind politische Weggefährten, lagen in der Endphase von Güls Präsidentschaft im vergangenen Jahr aber in mehreren politischen Fragen über Kreuz. So kritisierte Gül die Entscheidung Erdogans, den Zugang zum Kurznachrichtendienst Twitter in der Türkei blockieren zu lassen. Das Verfassungsgericht hob damals die von Erdogans Regierung verfügte Sperre wieder auf. Während Gül das Gericht dafür lobte, kritisierte Erdogan die Richter scharf.

Links: