Rugbyteam an Bord
Für die Überlebenden war es ein Alptraum. Die Welt sprach später vom „Wunder der Anden“. 16 Passagiere überlebten einen Flugzeugabsturz und 72 Tage in eisiger Kälte. Um dem sicheren Tod zu entgehen, taten sie das Unvorstellbare: Sie aßen Menschenfleisch.
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Der Luftwaffenflug 571 der Fuerza Aerea Uruguaya startete am 12. Oktober 1972 von Montevideo aus mit Ziel Santiago de Chile. Dorthin wollte das Rugbyteam Old Christian’s Club zu einem Freundschaftsspiel. An Bord waren auch Freunde und Bekannte. Das Wetter war schlecht, darum landete der Pilot in Mendoza in Argentinien, wo Passagiere und Besatzung übernachteten. Zwar war das Wetter tags darauf, am Freitag, dem 13., nicht besser, aber die Crew entschied sich wohl auch auf Drängen der Passagiere zum Weiterflug. Das Unglück nahm seinen Lauf.

AP
Dezember 1972: Die letzte Nacht im Rumpf des Flugzeuges vor der Rettung. Ein Bergrettungsteam hatte bereits Essen und Trinken gebracht.
„Machen Sie sich auf einen kleinen Tanz gefasst“, kündigte eines der fünf Crewmitglieder die Turbulenzen über den Anden an. Die Warnung wurde von den 40 Passagieren mit Humor und auch Übermut aufgenommen. Die meisten waren erst 19 oder 20 Jahre alt, Studenten und junge Rugbysportler. Für viele war es der erste Flug überhaupt. Dann wurde es auf einmal ernst, die Maschine sackte 200 Meter wie ein Stein ab. Gegen 15.30 Uhr kam der letzte Funkspruch von der „Fairchild FH-227D“ zum Tower nach Santiago, dann brach der Kontakt ab.
„Wir hatten nichts mehr zu essen“
Das Flugzeug streifte mit einer Tragfläche einen Berg, verlor dann einen Teil des Hecks und raste mit hoher Geschwindigkeit in eine Schneebank. Zwölf Menschen starben bei dem Aufprall, drei weitere noch in der ersten Nacht. Erst langsam begriffen die Überlebenden ihre Lage: 4.000 Meter Höhe, 30 Grad minus, wenig Nahrungsmittel und nur ein Rumpfwrack als Schutz vor Schnee und Wind - ein Wettlauf mit der Zeit ums Überleben begann. Nach zehn Tagen hörten sie über ein kleines Radio die bittere Nachricht, dass die Suche eingestellt worden war. Ein Alptraum.
Die Überlebenden trafen eine schwere Entscheidung, die das Unglück später oft reißerisch in die Schlagzeilen bringen sollte. Sie begannen das Fleisch ihrer toten Freunde und Bekannten zu essen. Eine grausige Vorstellung. Aber es ging ums nackte Überleben. „Als wir wussten, dass die Suche gestoppt war, dass wir für die Welt nicht mehr existierten, mussten wir eine Entscheidung treffen, und wir hatten nichts mehr zu essen. Das ist die Realität“, erinnerte sich der Überlebende Carlos Paez in einem Interview zum 30. Jahrestag des Unglücks.
Acht Menschen starben durch Lawine
Die eingeschworene Gruppe trotzte wochenlang Unwettern und Kälte. Viele von ihnen hielten die enormen Strapazen nicht aus und starben. Die Stärkeren unternahmen Expeditionen, um zu sehen, wo sie waren: in der endlosen schneebedeckten Bergwüste der Anden. Am späten Nachmittag des 29. Oktober, als sich die Gruppe gerade im Rumpf auf eine weitere eisige Nacht vorbereitete, ging eine gewaltige Lawine von den Bergen ab. Sie begrub das Wrack unter sich. Sieben Männer und eine Frau starben.
Die Zahl der Überlebenden war inzwischen auf 19 geschrumpft. Oft drehten sich die Gespräche ums Essen. „Wir waren so hungrig (...). Wir hatten eine Liste mit 130 Restaurants in Montevideo gemacht. Reiner Masochismus“, sagte Paez. Die Freunde formten aus Koffern ein Kreuz im Schnee und hofften, es sei aus der Luft zu sehen. "Was uns stark hielt, war das Denken an den nächsten Tag. ,Vielleicht morgen!‘ - das war es, was uns 72 Tage am Leben hielt. „Vielleicht morgen!" - das war unser Motto“, erinnerte sich 2002 Roberto Canessa.
Kein Wunder, sondern „natürlicher Kampf ums Leben“
Er war es auch, der mit seinem Freund Fernando Parrado den Abstieg schaffte und Hilfe holen konnte. In zehn Tagen legten sie 70 Kilometer durch die Anden zurück, bis sie einen Hirten trafen, der Rettungsteams benachrichtigte, die die Überlebenden mit Hubschraubern abholten. Zu Hause wurden sie triumphal empfangen. „Einige Menschen haben das als Wunder der Anden bezeichnet. Ich denke, es war eher ein natürlicher Kampf des Menschen ums Leben“, sagte Paez. 16 Passagiere hatten überlebt. „Es wäre ein Wunder gewesen, wenn alle 45 nach 70 Tagen am Leben gewesen wären. Aber das ist nicht der Fall.“
Helmut Reuter, dpa