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Schande riecht nicht

2014 ist das Jahr des großen Gedenkens an den Ersten Weltkrieg gewesen. Das, was ihn aber von allen anderen Kriegen zuvor unterscheidet - das massenhafte Sterben an den Schöpfungen der Rüstungsindustrie -, jährt sich erst jetzt zum 100. Mal: mit dem ersten Kampfgaseinsatz am 31. Jänner 1915, geplant und ausgeführt von der deutschen Armee bei Bolimow nahe Warschau.

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An dem Tag fand der erste geplante Einsatz von Giftgas als Mittel des Kampfes statt. 18.000 Kartuschen mit Xylylbromid wurden auf russische Einheiten abgefeuert. Es handelte sich noch nicht um eine tödliche Massenvernichtungswaffe: Xylylbromid ist in der Wirkung dem auch heute noch von Polizeieinheiten verwendeten Tränengas nicht unähnlich. Dennoch markierte der 31. Jänner eine Wende: Erstmals war damit die Absicht gegeben, einen Feind durch den Einsatz von Massenvernichtungswaffen zu vernichten.

Entscheidender Unterschied zu Kriegen davor

Der Einsatz von Gas an sich war nichts Neues: Schon im Altertum wurden geschwefelte Brandkörper geschleudert, und in Asien gehörten Feuer, Rauch und Dämpfe spätestens seit dem vierten nachchristlichen Jahrhundert zum Kriegshandwerk. Der entscheidende Unterschied dabei war, dass diese Einsätze lediglich als Kriegslisten fungieren sollten, von denen man sich einen Vorteil im eigentlichen Kampfgeschehen erhoffte. Mit dieser Zielsetzung war auch schon zuvor im Ersten Weltkrieg Reizgas beschränkt eingesetzt worden.

Deutsche Infanterie während eines Gasangriffs in Flandern 1916

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Deutsche Infanterie während eines Gasangriffs in Flandern 1916

Beim Angriff auf die russischen Stellungen bei Bolimow nahm das Gas jedoch erstmals die Hauptrolle ein, wenn auch mit für die deutsche Armee „enttäuschenden“ Resultaten. Es verflüchtigte sich auf freiem Feld viel zu schnell und hatte kaum einen Effekt. Lobbyisten für den Gaskrieg - darunter vor allem die deutsche chemische Industrie - schufen im Hinblick auf diesen „Nachteil“ nur allzu gern und eilig Abhilfe: Kaum drei Monate später, am 22. April, starteten die Deutschen in der Schlacht bei Ypern den ersten tödlichen Chlorgasangriff.

Industrie lobbyierte für Kampfgaseinsatz

Die Geschichte des Gaskriegs ist damit auch eine Geschichte eines von industriellen Interessen gelenkten Krieges. Der deutsche Chemiekonzern BASF hatte nicht umsonst nach Kräften für den Einsatz von Chlorgas geworben, das damit schlagartig vom teuer und riskant zu entsorgenden Abfallprodukt zum Umsatzbringer wurde. Es waren zum Teil dieselben Proponenten, die ein Vierteljahrhundert später das Blausäurekonzentrat Zyklon B in die Nazi-Vernichtungslager liefern sollten.

Angehörige der britischen 55. Division geblendet von Tränengas, 10. April 1918

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Britische Soldaten, geblendet von einem Reizgasangriff

Schließlich markiert der Beginn des Gaskriegs auch den Beginn des modernen Wettrüstens. Innerhalb von Wochen hatten die anderen kriegführenden Länder gleichgezogen. Die Entwicklung immer tödlicherer Gaskombinationen wurde jeweils mit der Perfektionierung von Gasmasken und anderen Schutzvorrichtungen auf der anderen Seite beantwortet - mit Soldaten als austauschbare Träger rüstungstechnischer Neuerungen. Als verheerend „kreativ“ im Einsatz der Kampfstoffe zeigte sich dabei vor allem Österreich-Ungarn.

Wenn man sich Giftgas ungiftig redet

Das zynisch - wegen verschiedener Farbcodes auf den Behältern - so bezeichnete „Buntschießen“ wurde erstmals großflächig von der k. u. k. Armee am Fluss Isonzo praktiziert. Man verschoss Reizstoffe, die das Tragen von Gasmasken de facto unmöglich machten und zugleich Kampfstoffe, die die Lunge attackierten. 5.000 italienische Soldaten starben allein am 24. Oktober 1917 den qualvollen Gastod. Dem tödlichen Chlorgas war bald das noch tödlichere Phosgen gefolgt - und schließlich Senfgas, gegen das nur Ganzkörperschutzanzüge helfen.

Von Anfang an gab es auch die haarsträubendsten Rechtfertigungen des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen. Die Haager Konvention von 1907 hatte den Einsatz von „Gift oder vergifteten Waffen“ bereits klar verboten. Spitzfindig redeten sich jedoch vor allem Deutschland und Österreich zurecht, dass in der Konvention ja nur von der Vergiftung der Umwelt oder dem Verschießen vergifteter Projektile die Rede sei. Das Kampfgas vergifte jedoch nichts, sondern wirke ja nur, wenn es über Lunge oder Haut aufgenommen werde - die Opfer würden es sich somit ja selbst zuführen.

Russische Soldaten mit Gasmasken in einem Schützengraben (Gaskrieg), ca. 1916-17

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Russische Soldaten mit Gasmasken in Frankreich, 1916/1917

„Keine unnötigen Leiden“

Einer der wenigen in Österreich, die von Anfang an klar das Verbrechen des Gaskriegs anprangerten, war der publizistische Mahner Karl Kraus, der in seiner Zeitschrift „Fackel“ in einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Hohn ungekürzt offizielle Wortmeldungen wiedergab, wonach Gas „kein Gift“ sei und „keine unnötigen Leiden“ verursache. Zu seiner eigenen Sprache gefunden hatte Kraus wieder mit seinem Weltkrieg-Mammutwerk „Die letzten Tage der Menschheit“, worin er sich selbst als „Nörgler“ über Kampfgas referierend auftreten ließ.

Der Einsatz von Giftgas könne nur bedeuten, „dass die Armee wegen Feigheit vor dem Feind aus dem Armeeverband zu entlassen wäre - aus dem militärischen Ehrbegriff heraus müsste die Welt für alle Zeit zum Frieden gelangen“, so Kraus. Und weiter: Beteiligte Chemiker, die ohnehin schon die Wissenschaft entehrten, müssten ebenso wie jene, die sich „chlorreicher Offensiven“ rühmten, „im eigenen Gas der Schande ersticken“. Dieses sei jedoch das einzige, das nicht zu erfinden sei.

Lukas Zimmer, ORF.at

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