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Zwei Getriebene im Siebenvierteltakt

Entwarnung für Menschen mit Berührungsängsten: Keine Sorge, „Whiplash“ ist kein Jazzfilm, schon gar nicht im üblichen Klischeegewand (Genie dudelt in verrauchter Umgebung geistesabwesend vor sich hin, bleibt aber verkannt). Der Film spielt zwar an einem Jazzkonservatorium. Das bereitet aber, Musik hin oder her, vor allem die Bühne für ein obsessives Duell zweier Menschen.

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Die zwei Menschen sind der 19-jährige Schlagzeuger Andrew Neyman (Miles Teller) und der gefürchtete Ensembleleiter Terence Fletcher (J.K. Simmons), die einander buchstäblich von der ersten bis zur letzten Minute des Films in Unterdrückung, Unterwerfung und Auflehnung bis zur fiebrigen Machtprobe am Ende gegenüberstehen: Man denke sich „50 Shades of Grey“ ohne weichgespülte Erotik, aber dafür mit umso intensiver spürbarer Hassliebe und der Lust daran ebenso wie der Angst davor. Die Haue in „Whiplash“ sehen wirklich so aus, als täten sie weh.

Die besten Leidensgeschichten schreibt das Leben

Der namengebende Peitschenhieb (Whiplash) des Films ist ein Musikstück in tückischem Siebenvierteltakt, das im wirklichen Leben nur Musikrätselkönig Don Ellis in den 70er Jahren zähmen konnte. Das Big-Band-Vehikel wird im Film neben einer halsbrecherisch schnellen Version des Jazzklassikers „Caravan“ zum Symbol für eine Aufgabe, an der man nach menschlichem Ermessen nur scheitern kann. Scheitern ist aber für Fletcher keine Option. Das unterstreicht er auch mit physischer Gewalt, eine Extraportion Demütigung inklusive.

Schauspieler Miles Teller und J.K. Simmons in "Whiplash"

2014 Sony Pictures Releasing GmbH

Fletcher (J. K. Simmons) und sein junger Schüler (Miles Teller)

Regisseur und Drehbuchautor Damien Chazelle kennt seinen Filmstoff. Die Figur des Jungschlagzeugers ist bis hin zur zwillingshaften Ähnlichkeit mit Miles Teller als Andrew autobiografisch. Der Jungregisseur Chazelle wollte Schlagzeuger werden und schlug den Weg zum Filmemacher erst im „zweiten Bildungsweg“ nach genau solchen traumatischen Erfahrungen am Musikcollege ein, wie sie der Film schildert. Die persönliche Leidensgeschichte merkt man dem Film - ebenso wie die wohltuende Sachkenntnis - in jedem Moment an.

Das gelbe M&M zieht andere Saiten auf

Das Herzblut, das in dem Film steckt, lässt das Umfeld begreifbar werden. Auch wer es sich vorher nicht vorstellen konnte: Nachher weiß man, dass eine verschleppte Achtelnote zu einer Sache auf Leben und Tod werden kann. Das liegt vor allem an Simmons’ grandioser Darstellung des furchteinflößenden Professors. Er flüstert, schreit und schlägt zu, er tarnt, täuscht und flucht bemerkenswert kreativ, er geht über Leichen - und sitzt scheinbar immer am längeren Ast; all das, um aus seinen Schülern wahre Kunst und die Demut davor herauszuholen.

Simmons’ Gesicht ist alles andere als unbekannt: Seit Jahrzehnten fertigt der Vielarbeiter pro Jahr Dutzende Nebenrollen für Film, TV und Videospiele ab. Man sah ihn etwa als Zeitungsmann J. Jonah Jameson in den „Spider Man“-Filmen. Er ist sich für keinen Job zu schade: Ganz Amerika kennt seine Stimme etwa als die des „gelben M&M“ aus der Fernsehwerbung. Dass die Filmwelt nun auf einmal vor ihm kniet und ihn mit Preisen überhäuft, versteht, wer den Film gesehen hat. Nicht umsonst gilt er auch als Oscar-Favorit für die beste Nebenrolle.

Ego als sicherer Stolperstein

Was sonst vielleicht eine selbstmitleidige Nabelschau von Chazelle hätte werden können, erreicht durch Simmons ein anderes Niveau: Er macht grundsätzliche Fragen zu einem Thema aus Fleisch und Blut. Ist es wichtiger, ein gutes Leben zu haben oder Bleibendes zu schaffen? Geht beides zugleich? Muss die Herausforderung so weit gehen, dass man sie entweder besteht oder an ihr zerbricht? Die meisten Fragen bleiben offen. Aber nicht umsonst tritt im Film die Wende ein, als Fletcher selbst das einzige Mal sein Ego über die Passion für die Musik stellt.

Man muss allerdings dem gerade einmal 30-jährigen Chazelle auch für seine Arbeit Respekt zollen. Zwar geht der Film an manchen Stellen dramaturgisch den allzu plakativen Weg, aber Chazelle meistert mit seinem ersten Langfilm auf jeden Fall die schwierige Aufgabe, ein Kammerspiel mit exotischem Thema nicht eine Minute langweilig sein zu lassen. Die vielleicht am genialsten konzipierte und geschnittene Autounfallszene der Filmgeschichte zeigt als Draufgabe, dass man sich von ihm auch in visueller Hinsicht noch einiges erwarten kann.

Wohltuend neuer Blick statt Genieklischees

Und immerhin putzt Chazelle gleich mit seinem ersten Langfilm die ewig gleichen drögen Schemata von Musikerfilmen durch. Da wird bis zur tatsächlichen Selbstzerfleischung eben hart gearbeitet, bevor große Kunst zustande kommen kann. Jetzt muss Chazelle nur noch sein eigenes Trauma überwinden: Seine bisherigen Arbeiten als Regisseur und Drehbuchautor handelten von einem Trompeter, der für seine Musik seine Liebe aufgibt, und von einem Pianisten, der während eines Konzerts mit dem Tod bedroht wird, wenn er auch nur einen falschen Ton spielt. Manche Peitschenhiebe spürt man eben lange.

Lukas Zimmer, ORF.at

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