„Nährboden für Radikalismus“
Das Problem ist bekannt - und dennoch scheint es kaum Mittel zu geben, seiner Herr zu werden: Gefängnisse sind Orte der Radikalisierung für Islamisten, dort werden Kontakte und Netzwerke geknüpft. Auf der langen Liste von jungen Muslimen, die in Haft zu Extremisten wurden, sind auch zwei der drei Attentäter von Frankreich.
Dieser Artikel ist älter als ein Jahr.
Cherif Kouachi, einer der beiden Angreifer auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“, und Amedy Coulibaly, der zunächst eine Polizistin und dann in einem jüdischen Supermarkt vier Geiseln erschoss, kannten sich aus dem Gefängnis Fleury-Merogis bei Paris. Dort gerieten sie laut Angaben von Ermittlern in die Fänge von Djamel Beghal. Er zählt zu den einflussreichsten Islamisten in Frankreich und verbüßte zu diesem Zeitpunkt wegen der Vorbereitung von Anschlägen eine zehnjährige Haftstrafe.
Justizministerium sieht keinen Zusammenhang
„Wir haben ein Problem mit dem Strafvollzug“, sagt der Anwalt Martin Pradel, der mehrere Dschihadisten verteidigt. Die Enge, die Untätigkeit und das Fehlen einer psychologischen Betreuung seien ein Nährboden für Radikalismus, sagte er der Nachrichtenagentur AFP.
Im Pariser Justizministerium wird das Problem heruntergespielt. Unter den 67.000 Häftlingen in den französischen Gefängnissen seien derzeit 152, die im Zusammenhang mit terroristischen Vorhaben verurteilt wurden. Von ihnen seien aber nur 16 Prozent bereits früher im Gefängnis gewesen, betonte Ministeriumssprecher Pierre Rance. Die anderen 84 Prozent „sind woanders zu Radikalen geworden“.
Premier will Einzelhaft für Islamisten
Zu den Inhaftierten gehören laut Rance rund 60 Prediger, die andere Häftlinge für ihre radikalen Ideen gewinnen wollen. Einige von ihnen sind seit kurzem im Gefängnis Fresnes nahe Paris in einer eigenen Abteilung untergebracht und so von den übrigen Häftlingen getrennt. Diese Maßnahme gilt als Test. Anwalt Pradel meint, solche „kleinen Guantanamos“ könnten die Radikalisierung sogar noch fördern.
Premier Manuel Valls kündigte am Montag an, Islamisten würden nun im Gefängnis in Einzelhaft genommen. „Wir trennen diese Gefangenen vom Rest“ der anderen Häftlinge ab, sagte der Regierungschef. Diese Maßnahme müsse „allgemein angewandt“ werden. Gleichzeitig solle sie aber mit „Umsicht“ umgesetzt werden.
Radikalisierte Kleinkriminelle
Tatsächlich gibt es allein in Frankreich eine lange Liste von im Gefängnis radikalisierten Islamisten: Mohamed Meraher erschoss bei drei Attentaten im März 2012 im Großraum Toulouse sieben Menschen. Seine kleinkriminelle Karriere begann er schon mit 14. Als er 18 war, kam er ins Gefängnis, dort wurde er radikalisiert. Beinahe identisch ist die Biografie von Mehdi Nemmouche, den Verantwortlichen für den Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel im März 2014.
Konspirative Zellen
Der französische Soziologe Farhad Khosrokhavar, Autor eines Buches zur Radikalisierung junger Muslime, sieht ebenfalls Gefängnisse als zentrale Orte. Dort fänden viele Zugang zu ideologischem Denken, sagte er der „Zeit“ (Onlineausgabe). Sie informierten sich vor allem über das Internet über den Islam, allerdings werde die Religion meist nur herangezogen, „um die Gewalt zu legitimieren.“ Khosrokhavar sieht auch eine neue Strategie der radikalislamischen Gruppen im Gefängnis. „Es werden nur noch kleine, konspirative Zellen gebildet, um nicht die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.“
In Frankreich stammten Islamisten häufig aus den Banlieues: „Von der Gesellschaft fühlen sie sich verachtet und ausgestoßen, ihre Erfahrung der Ausgrenzung haben sie in Hass verwandelt.“ Wenn sie als Kleinkriminelle ins Gefängnis kämen, passiere dann die Radikalisierung.
Terrorpläne aus der Haft
Das Problem ist aber auch in andern Ländern bekannt: In den USA etwa gründete Kevin James 1997 eine sunnitisch-islamistische Terrorzelle. Geplant waren Anschläge auf das US-Militär, israelische Einrichtungen und Synagogen. 2009 wurde eine Gruppe verhaftet, die ebenfalls Synagogen angreifen und US-Militärflugzeuge mit Stinger-Raketen abschießen wollte. Auch die vier Mitglieder dieser Gruppe lernten einander im Gefängnis kennen.
Der aus Großbritannien stammende Schuhbomber Richard Reid, der 2001 versuchte, in seinen Schuhen versteckten Sprengstoff auf einem Transatlantikflug zu zünden, saß ab seinem 17. Lebensjahr immer wieder im Gefängnis, konvertierte dort zum Islam und wurde radikalisiert.
Haftbekanntschaft führte zu Madrider Anschlägen
Muktar Said-Ibrahim, der zwei Wochen nach den Anschlägen vom 7. Juli 2005 in London versuchte, einen ähnlichen Anschlag auszuführen, war in seiner Jugend kleinkriminell. Und auch bei den Madrider Zugsanschläge vom 11. März 2004 spielte das Gefängnis eine große Rolle: Der Bergarbeiter Jose Emilio Suarez Trashorras lernte den Marokkaner Jamal Ahmida dort kennen, die beiden glitten in den Extremismus ab. Der Spanier besorgte schließlich den Sprengstoff für die Anschläge mit 191 Toten, Ahmida soll Geld beschafft haben. Er starb gemeinsam mit sechs Mittätern, die sich von der Polizei umstellt in die Luft sprengten. Trashorras wurde zu mehr als 34.000 Jahren Haft verurteilt.
US-Camp als IS-„Eröffnungskapitel“
Und selbst in der Geschichte der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) gilt ein Gefängnis als „Eröffnungskapitel“. Im zwischen 2003 und 2009 betriebenen Camp Bucca, dem US-Lager für Terrorverdächtige im Irak, waren neun Führungsmitglieder der Terrormiliz inhaftiert, darunter Abu Bakr al-Bagdadi, der mittlerweile selbst ernannte „Kalif“. Das Lager habe ein „einzigartiges Milieu“ für die Radikalisierung und die Kooperation unter den Gefangenen geboten, schrieb die „Washington Post“. Es sei prägend für die Entwicklung der „stärksten dschihadistischen Kraft von heute“ gewesen.
Neben Bagdadi, der fünf Jahre in dem Lager gewesen sein soll, waren laut der US-Zeitung unter anderen auch die „Nummer zwei, Abu Muslim al-Turkmani“, und der (inzwischen tote) höchste militärische Führer Hadschi Bakr sowie der Anführer der ausländischen Kämpfer des IS, Abu Kasim, dort inhaftiert. Natürlich dürften die Männer schon als Extremisten ins Camp gekommen sein, „ganz sicher waren sie es aber, als sie gegangen“ seien, so die Einschätzung der die auf Sicherheitsanalysen spezialisierte Soufan Group.
Links: